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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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‚Schlemihl‘, den ich jetzt in der Hand halte, ist nicht der Gleiche, dem ich als Kind begegnete. Er wuchs und reifte mit mir, jetzt sprechen wir auf einer Augenhöhe. Ich lese schnell, ich glaube, dem Geheimnis des Schattens auf der Spur zu sein. Warum hat Chamisso den Helden seiner Ruhe beraubt? Was war das, was er mit den Einheimischen nicht teilen konnte? Die Kinderlieder? Die Sprache der Mutter? Die Feste der Väter?
    In dem Moment kracht es unten in Elisabeths Wohnung so stark, dass unser Geschirr im Küchenregal klirrt. Dann hören wir einen kurzen Schrei.
    Hörst du?, fragt Marina. Komm, wir müssen zu ihr, es klingt furchtbar!
    Wir gehen runter, klingeln und lauschen vor der Tür. Es wird still.
    Wer ist da? Elisabeths Stimme ist tief und fremd.
    Was ist passiert? Brauchen Sie Hilfe?, schreit Marina durchs Schlüsselloch.
    Ich?
    Ja, Sie! Geht es Ihnen gut?
    Alles o. k. Ich habe beim Duschen unabsichtlich kaltes Wasser aufgedreht.
    Elisabeth, alles in Ordnung?
    Alles in Ordnung.
    Dann mach auf!
    Nein.
    Warum nicht?
    Ich mach dir nicht auf, weil du mich verachtest! Ich habe so viel für dich gemacht, ich wollte dir helfen! Ihr habt alles vergessen, wie wir Fresspakete für eure Perestroika schickten!
    Danke, liebe Elisabeth!, sage ich ins Schlüsselloch, und denke dabei etwas ganz anderes: Ja! Öl und billiges Mehl! Damit die Bösen und Hungrigen nicht alle hierher kommen!
    Ihr Russen seid alle undankbar!, dröhnt es aus der Wohnung.
    Ja, Elisabeth, es ist so! Nur Ruhe bewahren!
    Sind wir es tatsächlich? Bin ich immer noch wie damals? Wie viel habe ich noch in mir von dem Mädchen, das einst für eine Jeans seine Seele dem Teufel abgetreten hätte, denke ich, während ich die Treppe hochsteige.
    Mit Elisabeth stand es tatsächlich nicht so gut in den letzten Monaten. Sie zeigte sich immer seltener draußen, dafür aber sah ich jeden Abend ihr Profil vor dem Bildschirm im beleuchteten Fenster. Allem Anschein nach verstrickte sie sich in klebrigen virtuellen Spinnennetzen. Fernshoppen,
Ebay
, Partnerbörsen – immer öfter sah ich, wie hinter Elisabeths Tür aus Internettiefen gefischte Scanner, Teekannen, Rückenkratzer, Po-Trainer, Cocktail-Mixer und auch Männer verschwanden.
    Gestern habe ich Elisabeth unter meinem Fenster vor einem Mann stehen gesehen, ihre Hände ruhten auf seinen Schultern. Sie war ohne Mantel, in einer tief dekolletierten Samtbluse, mit bunten Edelsteinen bestickt. Sie blickte theatralisch hoch, in die Augen des Mannes, und er schaute zur Seite. Dann nahm er ihre Hände von seinen Schultern mit zwei Fingern, als ob es ekelerregende Tierchen wären, drehte sich um und ging. Sie blieb stehen. Aus meiner Höhe sah ich Elisabeths großen Busen im tiefen Dekolleté und eine zottige rote Kunstblume in ihrem Haar. Tote Blumen – Boten der unerwiderten Liebe. Mit toten Blumen suchte Ophelia diese triste Welt zu schmücken, bevor sie in ihrem Liebesdurst ertrank. Ich schaute zu Elisabeth und sah plötzlich Lydia. Es passiert mir neuerdings immer öfter, dass mir im Gesicht eines Menschen die Züge seines Doppelgängers aus meiner Vergangenheit entgegenschimmern. Lydia trug auch gerne tief dekolletierte Blusen. Von dem Fleischgürtel nach oben gedrängt, wölbten sich ihre riesigen Brüste gewaltig nach vorne, sodass ihr goldener Haarzopf nicht herunterhing, sondern sich auf der Brust wie ein Fluss auf dem Globus schlängelte. Nach Feierabend eilte Lydia zu ihrem Hamlet und legte ihm ihre Hände auf die Schultern, und er nahm sie gleich weg, weil in der Stadt meiner Kindheit sehr prüde Sitten herrschten. Ich beobachtete sie neugierig aus dem Fenster, bis sie hinter der Ecke verschwunden waren, und setzte mich wieder an das Buch, aus dem ich ein Gedicht auswendig lernen musste. Das Gedicht hieß „Vaters Mantel“. Es handelte von einem Mädchen, das die Knöpfe auf dem Kriegsmantel des gefallenen Vaters putzt. Ich las von den Schulterklappen und Stiefeln mit genagelten Sohlen, die am Stein Funken schlugen, und die Zeilen bebten vor meinen Augen. Bald schnitt Mutter aus unseren Fotos den Vater heraus und ein Jahr danach heiratete sie. Mit ihrem neuen Mann wohnte sie nicht weit vom Kolosseum, und sonntags fuhr ich alleine ins Zentrum mit der Tram, um sie zu besuchen.
    Das nur schlecht gelernte Gedicht über den Mantel des Vaters brachte mir eine schlechte Note ein, ansonsten hatte ich nur die besten, weil ich meine Mutter beeindrucken wollte.
    Ach, mein Klügelchen, krallte sie ihre warmen

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