Berlin liegt im Osten (German Edition)
Fingerkissen in mein Haar und schaute dabei ihren Mann an. Siehst du, wie fantastisch ich bin, selbst meine Tochter bringt beste Noten nach Hause!, sagte ihr strahlender, auf den Mann im weißen Unterhemd gerichteter Blick.
Die Mutter und ihr neuer Mann wohnten in einem soliden Haus mit einer breiten Treppe, allerdings teilten sie die große Zweizimmerwohnung mit einer anderen Frau, die einen weichen Morgenmantel und unzählige Lockenwickler in ihrem Haar trug. Damit sah sie aus wie eine karikierte bourgeoise Spießerin aus einem sowjetischen Theaterstück – die Nachbarin arbeitete nämlich im Theater als Kostümmeisterin. Die Mutter und ihr Mann träumten davon, die Meisterin bald einmal loszuwerden, um beide Zimmer für sich oder, wie ich es mir sehr gerne einbildete, für uns zu haben.
Mit der Liebe stand es nicht gut in unserer Familie. Zwar gab es sie bei uns im Überfluss, nur erwidert wurde sie nicht. Die Liebesstrahlen stießen in allen Himmelsrichtungen in die Leere, sie waren wie die Speichen eines endgültig kaputten und enthäuteten Regenschirms. Meine Mutter liebte ihren Mann, ich liebte sie und meinen toten Vater, den ich kaum gekannt hatte – mit ihm vermisste ich die Möglichkeit einer vollkommenen gegenseitigen Zuneigung. Die Liebe meiner Oma galt uns allen, vor allem aber ihrem im Krieg verschollenen Ehemann. Wie es mit seinen Gefühlen stand, blieb unbekannt, es gab aber Gerüchte, dass der junge Großvater eigentlich eine andere geliebt hatte, dann aber meine Oma schwängerte und ehelichte.
Nur die Oma liebte uns alle und fragte nie nach Vergeltung ihrer Liebe. Sie diente allen ihren Nachkommen wie ein treuer Hund. Sie wusch, buk, putzte, nähte, ohne den Kopf von der Arbeit zu heben, und war immer heiter.
Sei nicht so traurig, meine Kleine, wir leben in so einer schönen Zeit!
Von wegen! Ich mochte unseren Hof nicht und auch nicht unsere buckelige Straße, gesäumt von den faltigen Blecheimern, die vor den Zäunen auf den Müllwagen warteten.
Einmal im Quartal fuhren die Hundefänger durch unsere Straße. Sie lockten die Tiere mit süßen verstellten Stimmen an und ließen dann eine zum Bogen angespannte Metallstange blitzartig gegen die Hundehälse prallen. Im kleinen Lastwagen, der an der Ecke stand, wimmelte und röchelte die mit Blut beschmierte organische Masse – das waren die Doofen, die Zahmen. Hoher Preis der Vertrautheit. Die Schlauen sind rechtzeitig davongelaufen.
Zu den allgegenwärtigen Miasmen des Fleischkombinats mischte sich gelegentlich auch ein Fäkaliengestank. Jeden Monat steckte ein braver schnurrbärtiger Grubenräumer seinen dicken, ringelwurmähnlichen Schlauch in die Jauchegrube und schaltete die Pumpe ein: Genüsslich zitternd, seufzend und schmatzend saugte der riesige Rüssel den flüssigen Kot ins sich hinein und spuckte ihn in den Kessel auf dem Lastwagen.
Ich schämte mich für meine Oma, weil sie mit ihrem Kopftuch sehr altertümlich aussah. Ihre ganze Erscheinung opponierte gegen die Idee ferner, urbaner Welten, von denen ich gemeinsam mit meinen Altersgenossen träumte. Da waren die Männer großzügig und stark, die Frauen feminin und graziös, wie Schmetterlinge. Während meine Oma mit ihrer plumpen, selbst genähten, flauschigen Flanellwäsche eher einer Raupe ähnelte.
Wenn ich Geburtstage feierte, schickte ich meine Oma weg. Sie kochte noch, deckte dann den Tisch und ging zu einer Nachbarin. Ab und zu kam sie von außen zum Fenster, und ich machte eine Handbewegung, sie solle da verschwinden. Ich kann mich immer noch an ihr verschwommenes Gesicht erinnern, das aus der Dunkelheit hinter dem verschwitzten Fensterglas wächst: der breite blasse Mund, die Entennase, waagrechte Falten an der Stirn und treue, wache Augen, glänzend und warm wie reife Kirschen.
3
Heute bin ich sehr spät aus den Federn, heute ist mein Geburtstag. Leise, sehr leise rieselt der Schnee. Ich öffne das Fenster und schaue hinunter zum Bürgersteig: Ein gefesseltes und geschundenes Fahrrad; ein einzelner, von Dreck aufgedunsener Handschuh, eine tote Taube – verschneit, strahlen sogar solche öden Dinge Würde und Ruhe aus. Als ob sie weiß umsäumt in die nächste Dimension des Daseins vorgedrungen wären, dorthin, wo alles am Platz ist und nichts und niemand überflüssig.
Schon wach?, zeigt sich Marina in der Tür mit einem Päckchen in der Hand. Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag!
Aus dem goldenen Geschenkpapier rollt eine wunderschöne Paradiesblume: eine
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