Berlin liegt im Osten (German Edition)
begrüßten sich artig an der Kreuzung, und er begleitete sie bis zum Tor des Hauses in der Nebenstraße, wo sie zur Untermiete bei dem sogenannten
Blumenweib
wohnte, das Papier- und Wachsblumen für Gräber machte. Hamlet wartete am Tor, während Lydia frische und schöne Kleider anzog, und sie gingen spazieren. Mit der Dämmerung kamen sie zurück und hingen aneinander in der Dunkelheit. Dabei seufzte und schnaufte Hamlet so, als ob er Lydia in Stücke reißen wollte. Die Hunde bellten und schlugen mit den Ketten, und die Hundeherren knallten mit den Türen und schimpften auf die Nachtschwärmer. Mit großer Mühe trennten sich die Verliebten voneinander. Lange hielten sie sich an den ausgestreckten Armen und glichen dabei den Magdeburgischen, durch Vakuum gekoppelten Halbkugeln, die mehrere Pferdegespanne nicht auseinanderzukriegen vermochten.
Liebe hat eine furchtbare Kraft!
, schrieben wir Mädchen in unseren Alben.
Es war eine südliche Stadt, und wir fingen früh an, uns nach Liebe zu sehnen – nach einer knisternden, geheimen und unzüchtigen Liebe.
Einmal war Raphael, ein geistig behinderter Junge, allein zu Hause geblieben, und von Verlangen ergriffen, legte er seine Kleider ab und stieg auf die Fensterbank. Er drückte seine lodernden Lenden an die Fensterscheiben und tastete mit seinen froschartig gespreizten Fingern über das Glas. Die Kinder im Hof jubelten vor Freude, Raphael freute sich ebenso.
Im Herbst starb Lydia an den Folgen einer misslungenen Abtreibung. Sie war kurz vor ihrem Tod noch einmal zu uns gekommen – mit Fleisch umwickelt, blass, entzündet.
Ich werde sie alle umbringen, euch die Augen mit Säure verätzen, wenn ich wieder frei bin!, schrie unsere Nachbarin Galina, als sie wegen illegaler Abtreibung festgenommen wurde. Die Liebe schien mir damals gefährlich und schmerzbringend zu sein, den Schmerz stellte ich mir ähnlich vor wie den der Kinder bei den Comprachicos von Victor Hugo.
Lydia war in einem Kinderheim aufgewachsen und hatte keine Verwandten. Um ihre Bestattung kümmerte sich die Nachbarschaft. Die Frauen kleideten die tote Lydia mit großem Aufwand, wie eine Braut. Meine Oma nähte ihr ein weißes Kleid, dessen vordere Seite sorgfältig nach Maßgabe der großen Brüste geschneidert und verziert wurde. Die Rückenseite blieb ohne Abnäher und war geschlitzt, damit wir Lebendigen das Kleid leichter über den toten Körper ziehen konnten.
Der Sarg stand im Hof des Blumenweibes auf zwei Hockern. Lydias dicker, goldener Zopf lag auf dem weißen Kissen und war um den Kopf herum drapiert wie ein Heiligenschein. Lydias Vermieterin schmückte das Sarginnere mit wunderbaren weißen und rosa schimmernden Blüten, wie Ophelia lag Lydia da, eine tote Braut, inmitten von Blüten schwebend. Als meine Oma und ich nach der Beerdigung nach Hause kamen, schalteten wir keine Lichter ein und saßen sehr lange in der Halbdämmerung. Ich weinte, weil mich die Vorstellung quälte, dass Lydia da unten ganz allein im Dunkeln liegt und sich nicht gegen die anrückenden Horden phosphoreszierender Würmer und Maden wehren kann. Nimm dich in acht, meine Enkelin, nimm dich in acht. Deine Röcke sind zu kurz, deine Hosen zu eng, ich mache mir solche Sorgen!, sagte die Oma und verbarg das Gesicht in ihren Händen.
Wir saßen in ihrem Zimmer, an das ich mich bis ins Detail erinnern kann: Nähmaschine, Kleiderschrank, ein Wandteppich, der eine edle Dame zu Ross zeigte und ihren Kavalier, hagere Hunde jagten unsichtbares Wild. Neben dem Bett stand ein dreiteiliger Spiegel, mannsgroß, mit beweglichen Flügeln, in denen man das Bett multipliziert sehen konnte – oder ich konnte mich mit meinen ersten unbezahlbaren, engen Jeans sehen, dahinter meine in den Spiegeltiefen immer kleiner werdende Oma.
Ich habe die Stadt ohne Bedauern verlassen. Ich wusste damals nicht, dass ich mich irgendwann nach unserem Walnussbaum sehnen werde. Die Oma und die Mutter schienen mir noch eine Ewigkeit zu existieren, und Leningrad dachte ich mir als eine Stadt, wo sich Verliebte an den Newa-Ufern ganze Nächte lang in den Armen liegen und schauen, wie die Schiffe unter weißen Segeln vorbeischweben.
5
Zu Silvester möchte Marina bei uns mit ihren Freunden feiern, ich habe eine Karte für die Neujahrsparty in der
Scheune
, einem Treffpunkt der russischen Migranten: Essen, Trinken, Disco, Karaoke, Tombola und Konzert – ein buntes Kinderfest für Erwachsene. Als Marina erfährt, dass ich stattdessen zu Herrn Seitz
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