Berlin liegt im Osten (German Edition)
Vielleicht waren sie ihr ganzes Leben lang tot, und erst hier gestrandet, haben sie ihre Seele bekommen …
Sie sehen sehr melancholisch aus, sagt der Mann und richtet sich auf.
Ich?
Nein, all diese Dinge. Er schaut mich mit direktem Blick etwas länger an: Aber Sie auch.
Mir fällt nichts ein, ich horche, wie das Blut in meinen Schläfen rauscht, und schweige.
Melancholisch
– ist das etwas Nettes oder ein Tadel? Wirkt meine neue bunte Mütze tatsächlich wie ein Köder auf schöne Männer? Attraktiv ist er durchaus: groß, freundlich und locker. Braunes, eng anliegendes Haar. Von dunklen Wimpern beschattete hellgrüne Augen. Das schmale Gesicht hat keine scharfen Kanten, von flinken Schöpferhänden ist es sorgfältig ausgearbeitet worden und dann anschließend von oben nach unten zart geglättet. Und dieses speziell breite, helle Lächeln! Seine Träger scheinen viel mehr Zähne zu haben, als einem Sterblichen zusteht. Von der Peinlichkeit meines
Ich?
erschlagen, wende ich das Gesicht von meinem Gegenüber ab.
Verbuchen Sie es ruhig als Kompliment, greift er meine Gedanken auf und schaut mir ins Gesicht. – Aber eigentlich wollte ich Sie fragen, wie ich von hier zum Rosenthaler Platz komme? Ich habe da im
Gorki Park
eine Verabredung und habe mich im Schneesturm etwas verlaufen. Kennen Sie die Kneipe?
Es sind keine hundert Meter von hier. Gehen Sie da nach rechts, winke ich mit der Hand.
Es ist schon Viertel nach, ich muss schnell los! Seine Schultern fahren wieder hoch. – Sie müssen nicht zufällig auch da lang, zum Rosenthaler Platz?
Ich schüttle verneinend den Kopf, und dieser Trommelwirbel aus Neins, spontan und ungewollt wie eine krankhafte Inkontinenz, ärgert mich. Und als ob das noch nicht ausreichte, lege ich gleich nach: Ich muss zum Rosa-Luxemburg-Platz, in die entgegengesetzte Richtung, und ich habe es auch sehr eilig. Ich lasse ein plumpes
Tschüss!
folgen. Noch ist es nicht zu spät, noch könnte ich mich anders entscheiden. Stattdessen laufe ich immer schneller weg, meine Schritte sind weit und hart, der Schnee quietscht unter meinen Sohlen so laut, als würde mir jemand hinterher rennen.
Erst als ich die Rosa-Luxemburg-Straße überquert habe, kann ich mich zwingen, stehen zu bleiben. Direkt neben mir brüllt plötzlich ein stehendes Auto. Als es sich dann langsam durch den Schnee davonmacht, bleibt vor meinen Füßen eine dunkle, kahle Straßenfläche, beschriftet mit in den Asphalt eingelassenen Metallbalken:
Komm schon schneller, wir verstecken uns zusammen vor der ganzen Welt in zwei Zimmerchen, wir werden allein arbeiten, selber kochen, und es wird uns so gut sein, so gut! Rosa Luxemburg. 1899
. Während ich das lese, verschwinden die Buchstaben unter den Schneedaunen. Als ich den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite betrete, ist die eben noch offene, dunkle Wunde schon vom Schnee geheilt.
Ein Dutzend Schritte entfernt, im Schutz eines schmalen Vordachs steht sie: Rosa Luxemburg. Die kleine Frau strebt nach vorne, doch ihre in steifen Röcken verfangenen Beine ziehen sie zurück. Es ist eine durchaus realistische Darstellung in Bronze, bloß etwas verkleinert, und diese Verkleinerung wirkt wie eine Verhöhnung der hinkenden Frau mit dem kleinen, schmalen Gesicht und dem üppigem, hoch zusammengebundenen Haar.
Die Nachbarn haben für Elisabeth einen Krankentransport gerufen, sie spielte in der Wohnung verrückt, hat Geschirr und Glühlampen zerschlagen, sie ist abgeholt worden, flüstert Marina mir ins Ohr, als ich nach Hause komme.
Ohne mich auszuziehen, bleibe ich vor dem Spiegel stehen und schaue zu, wie sich langsam auf meiner geblümten Mütze und auf meinen Schultern ein silbriger Schein entwickelt, gebildet aus Hunderten winzigen Wassertropfen, die an den hauchdünnen Wollhärchen hängen. Ich nehme Marinas Lippenstift und male mir die Lippen rot.
4
Mit einem Lippenstift in der Hand kann ich mir meine Oma nicht vorstellen. Wie ein Lastpferd hat sie ihr Leben lang an einem schweren Karren voller Kinder gezogen. Kinder, die sie in schwüler Dunkelheit mit einem Mann, dessen Körper sie nie zu sehen bekam, gezeugt hatte. Kurz vor der Revolution in die Kosakengroßfamilie hineingeboren, in der zwanzig Nasen an der Mittagstafel saßen, blieben meine Oma und ihre Schwester Mitte der zwanziger Jahre in der großen geplünderten Welt ganz allein. Eine endlose, vom roten Sonnenuntergang bestrahlte und verwüstete Steppe, bewohnt von hageren Kühen und zahmen, hungrigen
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