Berlin liegt im Osten (German Edition)
Menschen mit dunklen Zähnen und Hacken in den steifen Fäusten – so stelle ich mir heute das damalige Land meiner Vorfahren vor.
Vor dem Hunger flohen meine frisch vermählten Großeltern in den Kaukasus und arbeiteten da am Bau eines Wasserkraftwerkes. Von da wurde der Opa in den Krieg einberufen, wo er sehr bald verschollen war. Die Oma blieb mit zwei Kindern in dem Bergdorf. In ihrer Not hatte die junge Frau niemanden an ihrer Seite, nur eine struppige Kuh.
Die Deutschen drangen zum Wasserkraftwerk vor, das Dorf haben sie nebenbei beschossen. Wie hungrige Raubtiere knurrten die Flugzeuge, die Menschen versteckten sich im Gebüsch, und nur die Kuh blieb auf dem Hügel. Sie trampelte mit ihren gefesselten Hufen im Gras, stieß mit den Hörnern in die Luft und brüllte. Wie ein Molch schlängelte Oma den Abhang hinauf, die Erde unter ihrem Körper kochte von den dicht aufeinanderfolgenden Schüssen. Als sie die Stricke durchschnitt und die Kuh an den Hörnern fasste, huschte der eilige Schatten des Fliegers über sie. Aus der zerrissenen Kuhflanke fiel ein Eingeweideknäuel, und die Kuh zog es noch eine Weile hinterher, bevor sie stürzte. Ein Splitter traf auch Omas Wade, sie merkte es aber kaum und stampfte über von Staub und Erde panierte Tiergedärme. Es schmatzte und seufzte unter Omas Füßen, aber sie zog immer noch an den Hörnern des toten Tieres. Die Oma erzählte diese Geschichte oft und behauptete, das Gesicht des deutschen Piloten gesehen zu haben – dieser hätte vor Eifer seine Lippen so fest zusammengepresst, dass er wie ein lachender Mensch aussah.
Die Oma brüstete sich, dass sie nie geweint habe. Ich glaube, sie hat auch nie gebetet, nie gegrübelt, nie geträumt – sie überlebte. Wie ein Erdmännchen ist sie mit dem Sonnenaufgang auf die Beine gesprungen, hat sich umgeschaut (Welche Gefahr kann meinem Nachwuchs heute drohen?) und eilte zur Arbeit. Abends schuftete sie in besser gestellten Haushalten, um ein Pfund Mehl oder die Nieren eines durch Bombensplitter gefallenen Schafes kaufen zu können. Wenn sie die Beute in ihr Nest brachte, schauten die Kinder ihr nicht ins Gesicht, sondern auf die Hände. In den fünfziger Jahren zog die Familie aus dem Dorf in die Stadt, wo Oma zwei Zimmer in einer steinernen Baracke zugewiesen bekam.
Sie war stolz auf sich, weil sie es geschafft hatte: Die Kinder waren erwachsen, und sie lebte jetzt in einer Stadt, nicht weit vom Fleischkombinat, das ihr neben dem Putzen und Nähen noch eine Verdienstquelle bot. Sie hielt sich für wohlhabend und war stolz, dass sie ihr Brot allein verdiente, ohne Männer, die sie generell als Taugenichtse verachtete. Als ein höflicher und kultivierter Witwer aus der Parallelstraße sie aufsuchte, um ihr einen Antrag zu machen, ließ sie ihn nicht hinein. Sie stand am Treppenaufgang, vier Stufen höher als der Mann, und erwiderte auf seinen leise gestellten Antrag mit lauter, tiefer Stimme: Und was treiben wir dann vor Ihrem gemütlichen Kamin zusammen? Sollen wir etwa als Paar, im Duett in die Asche furzen?
Die Oma liebte ihren verschollenen Mann, und wir alle pflegten diesen Mythos, denn ebendieser Liebe war unser Clan entsprungen. Zu Festen versammelte sich bei uns am Tisch etwa ein Dutzend Menschen, Frauen waren in der Mehrheit. Sie alle hatten glatt gekämmtes Haar, das ihnen fest zum Kokon zusammengebunden im Nacken lag, geschlossene Kleider und dicke baumwollene, gerillte Strümpfe, die durch ein Gummiband gehalten wurden, das tief ins Schenkelfleisch biss und einen roten Ring hinterließ. Heute scheinen mir alle einander sehr ähnlich gewesen zu sein, wie Variationen einer einzigen Frau – meiner Oma. Jedes Gastmahl endete mit Omas Erinnerungen an ihren Mann,
er war groß, er war stark, er war der Beste
, und die kleinen zerknüllten Taschentücher, die die Frauen parat hielten, um sich beim Essen die Mundwinkel abzuwischen, wurden von Tränen nass.
Und dann bebte die Erde, die Berge versetzten sich, die Sonne blieb stehen: Eines Tages kam ein Brief von Omas verschollenem Mann, der aus deutscher Gefangenschaft nach Australien geraten war und dort lebte. Lange hatte er nicht gewagt, nach uns zu suchen, denn gefangen genommen worden zu sein, galt in der Sowjetunion als Verbrechen am Staat. Er war nie wieder verheiratet gewesen, und alle diese dreißig Jahre hatte er gearbeitet, gespart und gehofft, seine Familie wiederzusehen. Seine Einladung, zu ihm nach Australien zu kommen, hielt die Oma für indiskutabel,
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