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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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Zimmer war voll, die Musik laut, Flaumi kotzte gelben Schaum, und die Partygäste lachten, da sie dachten, er hat von der Tortencreme zu viel genascht. Am nächsten Morgen war er tot. Wir vergruben ihn heimlich auf dem Friedhof mit den verkrüppelten Engeln und legten ihm in seiner Kuhle einen großen Knochen dazu, den wir beim Graben gefunden hatten. Wieder daheim, in dem von der abgestandenen Party stinkenden Zimmer, liebten wir uns weinend. Hinter den schwarzen Fenstern raschelte der Regen, es knatterten und quietschten die Trams, die schmutzigen Gläser klirrten auf dem wackligen Tisch. Wir schauten an, was alles um uns herum lag – die verwesenden Zigarettenkippen in den Bierflaschen, gähnende, aufgebrochene Blechkonservendosen mit fischigen Ölresten, die Lappen, mit denen wir das Erbrochene des kleinen Hundes aufgewischt hatten –, und siehe, es war sehr gut. Die Liebe und der Tod, seufzte Schura befriedigt, lächelte und schaltete den Fernseher ein.
    Anstatt der Nachrichten lief das Ballett ‚Schwanensee‘ in körnigem Schwarzweiß. Das Radio war verstummt, das Telefon aber ging noch. Alle unsere Freunde wussten schon, dass man in Moskau putschte, und rieten uns ab, die Wohnung zu verlassen. Wir zuckten vor Schreck zusammen, als plötzlich das Radio hustete und mit tiefer, rauer Stimme verkündete:
    Achtung! Achtung! Die Panzer der Putschisten rollen in die Richtung unserer Stadt! Wir bitten alle, denen unsere junge Demokratie etwas wert ist, zum Rathaus am Isaakplatz! Nehmen Sie warme Kleider, Stullen und Verbandstoff mit!
Draußen fuhren keine Autos, die Fenster der Nachbarhäuser aber waren größtenteils beleuchtet. Schura steckte eine Gaspistole in die Hosentasche, warf eine Flasche Wodka und ein Gläschen Jod in die Tüte, und wir gingen raus.
    Bei der Metro-Station schlossen wir uns wortlos einer kleinen Menschenmenge an und gingen zur Busgarage. Wir stellten keine Fragen. Diese Nacht war von Menschen bevölkert, die gut eingespielt handelten, schweigend, ohne Absprachen – wie es sonst nur in Träumen geschieht. Den Möglichkeiten eines Traums folgend, sickerten wir irgendwie selbst durch geschlossene Tore. Unser breitschultriger Anführer riss die plissierte Tür eines Autobusses auf und startete den Motor.
    Die Ampeln waren tot, die Straßen leer, neben den seltenen Passanten machte unser Fahrer halt und lud sie ein, Mitstreiter zu sein.
    Am Newa-Ufer, nicht weit vom Zentrum, stieg ein junger Mann zu uns in den Bus. Er riss sein Sakko auf, zeigte uns das blau-weiß gestreifte Matrosenhemd und richtete die Pistolenmündung gegen die Schläfe des Fahrers. Hinter ihm stieg sein Komplize mit einem Maschinengewehr ein und schrie mit idiotisch lauter Stimme, wie man es in billigen amerikanischen Filmen tut: Alle raus!!! Hände auf den Hinterkopf! Hinlegen! Papiere! Waffen! Valuta!
    Alle stiegen aus und legten sich kreuz und quer, wie Robben, auf den Boden. Schura und ich lagen Kopf an Kopf.
    Schura, gib mir die Pistole, ich versteck sie, flüsterte ich.
    Ruhe!, schrie der Mann mit dem Maschinengewehr.
    Ich zog die Pistole aus Schuras Hosentasche und schob sie mir unter die Bluse.
    Gib sie mir zurück!, zischte Schura. Sie bringen dich um!
    Macht ja nichts, sagte ich.
    Er nahm meine Hand, küsste sie und ließ sie in seiner. Ich suchte seine zweite Hand und brach vor Liebe in Tränen aus. So lagen wir eine ganze Ewigkeit, ausgestreckt und händchenhaltend wie zwei Fallschirmspringer in den Sekunden, wo sich der rettende Stoff über ihren Köpfen noch nicht entfaltet hat. Unsere Liebe stand im Zenit – und wir waren fest davon überzeugt, dass wir gleich sterben werden.

2
    Ich halte den Mimosenbesen in meiner Linken, Schura drückt seine trockenen Lippen auf den Faustknochen meiner Rechten, und als er mir die Hand zurückgibt, sehe ich mit seinen Augen, wie alt sie geworden ist. Schura ist auch nicht jünger geworden. Mit seinem ergrauten Haar sieht er wie ein vergreister Joseph Brodsky aus. Und ich sehe wie meine Mutter aus, so, wie sie aussah, als ich sie zum ersten Mal etwas herablassend bedauerte: Ihr Leben nimmt ab, und sie tut so, als ob sie es nicht merke. Wie ein Seetangbündel war sie damals gerade von irgendeinem Provinzler aufgegabelt worden und hat sich am alten Kolosseum für immer verfangen. Ich wusste: Erst wird sie jeden Tag zur Arbeit eilen, dann jeden Monat nach dem Postträger mit ihrer Rente Ausschau halten, dann auf eine Krankenschwester mit einem Blutdruckmessgerät warten. Und

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