Berlin liegt im Osten (German Edition)
von ihm und lief zum Kinderbett, um nach dem Baby zu schauen. Manchmal nahm sie den Kleinen mit ins Bett, und irgendwann schlief sie im Kinderzimmer, um Ulf
erholsamen Schlaf
zu gönnen. Dafür aber stand er früh auf, verschwand für längere Zeit im Bad (neuerdings sperrte er sich da ein), und dann (entlastet, frisch rasiert und glatt gekämmt) übernahm er Marius für den restlichen Morgen, und Dora schlief nach. Um zehn vor neun weckte er Dora mit einem Kuss und ging zur Arbeit – ruhige, wolkenlose Zeiten.
Ulf hantierte sehr gern mit Kameras, dienstlich und privat. Ganz oben, im Zwischengeschossregal neben der Kiste mit Weihnachtsschmuck, stauen sich viele alte Fotoutensilien: weiße flache Schüsseln, eine Vergrößerungslinse und vieles mehr. Das Herzstück der Sammlung ist etwa ein Dutzend Kameras, große und kleinere. Die ganz alten sind korpulent und schwer, da ihre Innenorgane aus wertvollen Metallen gemeißelt waren. Vielleicht einzeln, vielleicht sogar mit warmen menschlichen Händen waren sie zusammengefügt. Diese Urwesen bewohnen Etuis aus echtem Leder, aus ebendieser dicken Schweinerinde, die mit der Zeit immer dunkler und glatter wird, bis sie die Farbe von poliertem Mahagoniholz erreicht. Unter ihnen gab es auch eine solide
Zenit
, so eine, wie sie Herr Kotov, unser Nachbar in Kema, besessen hatte.
Die in späteren Jahren hergestellten Apparate wurden immer kleiner, leichter, zerbrechlicher, manche scheppern wie Seifenbehälter. Ich habe in der Wohnung sogar ein aus schwarz bemaltem Karton gebasteltes Gehäuse gesehen, das die Konturen eines Fotoapparates nachahmt. In einem kleinen Kasten steckte sogar ein Film drinnen, den man mithilfe eines Bleistiftes drehen konnte, ähnlich wie in einer echten Kamera.
Eine Attrappe? Spielzeug?
Kann man so nennen. Aber eigentlich heißt es Camera Obscura, erklärte mir Herr Seitz. – Kennen Sie das?
Nein.
Er setzte es mir dann ausführlich auseinander: Wie das ist mit dem dunklen Inneren, mit dem Lichtstrahl, der eindringt, mit dem umgekehrten Bild und der Projektion. Und wenn das Bild auf einen Film projiziert wird, entsteht ein Foto. Es ist eine Art Urkamera, die viele Möglichkeiten bietet, die Wirklichkeit umzudrehen oder zu verfremden.
Das hier habe ich mit meinem Sohn zusammen gebastelt. Mitte der Siebziger. Der Vater und der Sohn spielten sehr gern mit dem Licht und mit Reflexionen. Sie gingen mit kleinen Spiegeln spazieren und entwickelten sogar ihre geheime Sprache, in der sie sich über zappelnde Lichtflecken verständigten.
Als Ulf auf einer seiner Reisen in einem Museum auf eine Camera Obscura stieß, verwarfen sie ihre Spiegel und Periskope und bastelten ausschließlich an den verdunkelten Zauberkästen, mit denen sich eine auf dem Kopf stehende Wirklichkeit auf wunderbare Weise einfangen ließ. Bald lernten sie sogar, damit richtige Fotos zu machen, die in ihrer melancholischen Schönheit konventionelle Bilder weit übertrafen.
Momente entschwundener Wirklichkeit, geerntet mithilfe all dieser Mechanismen, wurden in dicken Fotoalben gelagert. Nach Jahren sortiert, füllten sie restlos den unteren Kasten des wandbreiten Bücherregals – ein Zwischenspeicher für langes Leben, im Begriff, sich in einen Haufen Sperrmüll zu verwandeln.
Dora, Ulf und der Kinderwagen. Marius als dicke Raupe im grob gestrickten Wollanzug. Unzählige Schulklassen mit Dora in der Mitte. Marius mit FDJ-Uniform, und dann alle zu dritt auf dem blassen Rügener Strand. Meine Lieblinge sind die ocker schimmernden Stadtansichten aus den Sechzigern, aus den farblosen, aber immer noch lichten Zeiten. Eine unterbevölkerte, absterbende Stadt, die sich eigentlich im Aufbau befand. Viel Himmel, viel Luft, geköpfte Tempel, die einzeln stehenden Hauswände mit ihren ausgestochenen Fenstern und selten Menschen – eine schwindende antike Stadt, deren Metabolismus gelegentlich mit lauten karnevalesken Prozessionen angekurbelt wurde. Auf manchen Häusern in Berlins Osten kann man immer noch die drei zusammengeschweißten Metallröhren sehen, in die man während der Staatsfestlichkeiten grelle rote Fahnen steckte.
Auch Dora und Ulf, eng in eine Menschenreihe eingekettet, winkten mit kleinen Fahnen. Am Wochenende fuhren sie nach Potsdam, zu Doras Eltern, und in den Ferien nach Oberhof, Rügen oder gar Bulgarien oder Prag. Dienstlich besuchte Ulf mehrmals Westberlin – sie waren stolz darauf, weil die anderen sich all das nicht leisten konnten.
1983 ging Marius nach
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