Berlin liegt im Osten (German Edition)
einer Schere aufgeschlitzt. Das cremefarbene Unterhemd, Ulfs Weihnachtgeschenk, war mit Blut beschmiert, sodass die teure Spitze an der Brustpartie sich in eine dunkle steife Kruste verwandelt hatte. Nach einem Monat lag Dora querschnittsgelähmt in ihrem breiten Ehebett in der Torstraße.
Wir sitzen auf der Bettkante und schauen in Richtung Fenster. Links von uns steht der alte Schrank, in dem der schwarze Abiball-Anzug von Marius hängt. Darunter stehen die in Bereitschaftsdienst erstarrten glänzenden Schuhe, daneben hängt der karierte Wollmantel seines Vaters. In der horizontal aufgeteilten Schrankhälfte liegen heitere Stoffjahresschichten eng aufeinandergepresst. Die obere, lockere Schicht bilden die von Dora übriggebliebenen bunten, synthetischen Kleider. Als ich zum ersten Mal die Türe des alten Schranks öffnete, fielen Dutzende Packungen Nylonstrümpfe heraus, die Dora gern auf Vorrat gekauft hatte. Unausgepackt und keusch haben sie nie die Wärme von Menschenblut erlebt, und die werden sie wohl auch nicht mehr erleben.
Herr Seitz sitzt bis zur Unterwäsche entkleidet auf der Bettkante, seine Lenden sind mit dem verknäuelten Pyjama bedeckt, und er schaut mich an. Er fürchtet sich. Ich mache einen Bogen um das Bett, setze mich neben ihn und strecke meine Hand aus zur glatten Warze auf dem Sockel der kleinen Schirmlampe, um Licht anzumachen.
Bitte nicht, sagt er, und wir schauen im Halbdunkeln zum Fenster, wo ganz nah an der Scheibe ein Baumzweig zittert. Mit seinen kleinen glänzenden Blättern ist er so vollkommen und präzise ausgeführt wie eine teure Damenbrosche. Herr Seitz hätte sich nicht ausziehen sollen. Warum gehe ich nicht weg? Kann man so etwas aus Mitleid oder Freundschaft machen?
Draußen heulen die Sirenen der Funkwagen, auf der Fensterscheibe tanzt panisch der Widerschein des Blaulichts.
Darf ich Sie umarmen?, fragt er.
Eine Sekunde. Ich schalte nur den Fernseher aus und bin gleich wieder da. – Ich gehe ins andere Zimmer, bleibe da unentschlossen stehen und kehre dennoch ins Schlafzimmer zurück.
Blasses Mondgesicht, das über mir im Dunkeln schwebt. Leicht behaarte Männerflügel in meinen Händen. Sein warmes Atmen und seine kalten Ohren. Seine Handflächen unter meinem Kopf.
Du hast mein Haar eingeklemmt, sage ich leise, und dann noch leiser nenne ich ihn zum ersten Mal mit dem Vornamen. Dann liegen wir auf einer Bettseite, und ich dichte die Decke rund um Ulf ab und erzähle ihm zum Einschlafen Märchen und wie man meiner kleinen Freundin in Kema einmal schöne Stiefelchen gekauft hat. Ich kniete oft vor ihren Füßen, um die silbernen Hähne anzufassen, die seitlich an den Stiefelschäften angebracht waren, und das sah mein Vater einmal. Und als er das sah, trübte sich sein Gemüt. Da flog er über die Berge zum nächsten größeren Ort und kaufte mir wunderschöne, mit Pfauenschweifen geschmückte Stiefeletten, die so teuer waren, dass meine Mutter drei Abende hintereinander vor Wut weinte. Der schlafende Mann drückt sich noch fester an mich, und ich warte nur, bis er eingeschlafen ist. Dann stehe ich auf und ziehe mich an. Ulf liegt mit gekreuzten Händen auf dem Rücken, das fahle Straßenlicht vertieft die Falten und Höhlen seines Gesichts, das mich an die Masken toter Krieger im Innenhof des Zeughauses erinnert. Plötzlich kommt mir vor, dass er seinen Schlaf nur vortäuscht, und es wirkt unheimlich. Vom Glück erschöpft, vor Scham versteinert? Weg hier, schnell weg!
Als ich die Eingangstür hinter mir zuziehe, wundere ich mich, dass draußen so viel los ist. Kaum Autos, betörende Frühlingsluft und Horden junger Menschen, die ihre Bierflaschen fackelartig vor sich hertragen, und ich stoße immer wieder frontal gegen jemand, als ob ich stromabwärts ruderte. Vor der
Russendisko
schwirren Menschen, unter ihnen viele Touristen aus den deutschen Provinzen, die sich hier wie echte Russen austoben möchten, betäubt und nassgeschwitzt. Der Ort ist unter anderem als Partnerbörse für kurze, prickelnde interkulturelle Begegnungen bekannt, und die Menge, zusammengehalten durch magnetische Ströme, wirkt dicht und zäh. Mit großer Mühe dränge ich mich durch und bleibe, kaum vom elektrisierten Menschenschwarm losgelöst, wie angewurzelt stehen: Direkt vor meinen Augen, an der Kreuzung, fliegt ein Radfahrer vom Sattel hoch und stürzt mit lautem Krachen auf den Boden. Sein in die Tram-Spur geratenes Fahrrad landet ebenso auf dem Boden und liegt mit drehenden Rädern
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