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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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Redakteur einer der wichtigsten DDR-Zeitschriften, und sein Sohn war Student, auf den eine Stelle an der Universität wartete.
    Mit seiner Aufrichtigkeit, seinem Fleiß wird dein Junge eine blendende wissenschaftliche Karriere machen, glaub mir!, beteuerte Ulfs Vorgesetzter, der neue Chefredakteur. Da bin ich mir auch sicher, lächelte Ulf, geschmeichelt, wie er war.
    Inzwischen hatten sie einen
Lada
gekauft und die Küche ganz in Holz gekleidet, ganz wie Dora es wollte. Sie schmückte das Ensemble mit Hirschgeweihen und sonstigem rustikalem Zeug und wirkte dabei zahm und glücklich. Kaum war die „Thüringerküche“ fertig, zankten sie wieder, stürmisch, mit peinlichem Winseln und Türgeknalle. Dann lag die erschöpfte Dora auf dem Sofa und verdammte ihre verflixten Wechseljahre.
    Es liegt nicht an dir!, schluchzte sie versöhnlich. – Das klang plausibel, tief in seiner Seele jedoch glaubte Ulf, Dora vieler Freuden und Möglichkeiten im Leben beraubt zu haben. Das Schuldgefühl vermehrte seine Liebe zu ihr, und diese aufgedunsene Zärtlichkeit legte paradoxerweise seine Libido endgültig lahm. Dora zog in das Zimmer von Marius und verbrachte viel Zeit außer Haus. Wenn sie da war, stritten sie wieder heftig, wegen der Hirschgeweihe oder wegen der Solidarność. Zu Hause krachte es, draußen zitterte die Erde und sickerten Deiche. Die Ostberliner lehnten sich aus ihren Fenstern und schauten interessiert zu, wie die Wände ihres Kartenhäuschens langsam abblätterten. Ulf jedoch versiegelte seine Ohren gegen den Lärm der Zeit und tat so, als ob er auf felsenfestem Boden stünde.
    Weihnachten 1988 kam Marius nicht nach Hause, sondern blieb in Leningrad bei seinen Kommilitonen. Den Heiligen Abend verbrachten die Eheleute Seitz in Potsdam bei Doras frisch verwitweter Mutter, die sie anstelle des fehlenden Marius wie Kinder beturtelte und bescherte. Und als sie ihnen aus der Bibel vorlas, saßen sie aufrecht vor ihr wie auf der Schulbank und kicherten miteinander. Sie kehrten spät nach Hause zurück, und als Ulf nach dem Lichtschalter griff, gab es Funken, und die Glühbirne explodierte über ihren Köpfen. Lange tappten sie auf der Suche nach einer neuen Sicherung und einer Glühbirne im kalten Dunkel. Dora ging mit ihren hohen Absätzen durchs Zimmer, ihr Plastikmantel raschelte. Als sie an der Wand stand und er daneben, stellte er sich vor, wie er dieser anderen, unsichtbaren Dora den raschelnden Mantel hochschiebt und sie mit seinem Unterleib an die Wand drückt. Wie eine fremde Frau. Ihm schien, dass Dora sich auf die gleiche Frequenz eingestellt hatte, denn als sie dann die Leiter unter ihm festhielt, lehnte sie sich mit ihrem Gesicht an seine Waden.
    Sag mal, wer sind diese deine Freunde?, fragte Ulf.
    Dora prallte von der Leiter zurück und kniff ihre Augen gegen die plötzliche Lichtexplosion zusammen.
    Warum fragst du?
    Ich wurde wieder gefragt, ob ich weiß, mit wem du deine Zeit verbringst.
    Ich wurde!
Schönes, schlaues Passiv. Waren es die Agenten? Deine Parteikameraden? Und du sagst, dass dir nichts fehlt?
    Es ist nichts passiert. Sie haben nur gefragt. Sie waren auch davor schon bei mir in der Redaktion. Kennst du einen gewissen Peter Augustin?
    Warum haben sie mich nicht gefragt?
    Ich weiß es nicht. Das wäre mir auch lieber, wenn sie sich an dich wenden würden.
    Habe ich dir erzählt, dass ich am 28. für zwei Tage weg bin?, rief Dora aus dem anderen Zimmer, Betriebsausflug nach Sebnitz, in der Sächsischen Schweiz. Weltberühmte Kunstblumenstadt, kennst du? Alle machen Blümchen und sonst nichts.
    Ob es genug Hochzeiten gibt für so viele Seidenblumen, frag ich mich nur.
    Es gibt doch auch Beerdigungen und so, andere Gelegenheiten.
    Am 28. verunglückte das Auto, mit dem Dora und ihr Kieferorthopäde, Peter Augustin, unterwegs waren. Allerdings nicht in der Sächsischen Schweiz, sondern in Thüringen, wo der Arzt ein schnuckeliges Ferienhaus hatte. Er starb noch an der Unfallstelle, die schwer verletzte Dora schwebte mehrere Tage lang in Lebensgefahr. Ihre Milz war geplatzt, die Leber und die Wirbelsäule waren stark in Mitleidenschaft gezogen. Ulf kam jeden Tag zu ihr in die Charité – immer die unendliche Torstraße entlang, immer zu Fuß. Er schritt langsam, redete im Geiste zu Doras Mutter, zu Marius, zu Dora selbst, um dann schweigend an ihrem Bett zu sitzen, eine Tüte Mandarinen auf dem Schoß. Ganz am Anfang bekam er ein Bündel Kleider ausgehändigt, Kleid und Unterhemd waren mit

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