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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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Leningrad, um Geschichte zu studieren. Seitzens vermissten ihren Sohn und freuten sich sehr, als sie eine verrückte Fernsprechzelle im Palast der Republik entdeckten: Man musste nur eine Münze einwerfen und konnte unendlich lange telefonieren, sogar mit dem Ausland.
Alljo, alljo
, meldete sich die Wächterin des Leningrader Studentenwohnheimes und schickte jemanden nach Marius. Dann hörten sie im Hintergrund Stimmen, klappende Türen, Lachen, ihren Marius, der Russisch sprach, bevor er den Hörer ergriff. Dieses kostenlose Hörspiel machte Ulf glücklich, Dora aber längst nicht mehr. Küss ihnen die Hände dafür!, zischte sie. – Ich würde hier den ganzen Palast gerne in die Luft sprengen, samt ihrer Almosenzelle!
    Sie steuerten auf den Tag ihrer Silbernen Hochzeit zu und stritten sich immer öfter. Auch sonst änderte sich vieles in ihrem Leben – als ob die kommende Wende sich bereits mit leichten Erdstößen ankündigte. Hier und dort verschwanden Menschen aus ihrer Umgebung,
nach Westen
klang inzwischen so alltäglich und banal wie
in den Urlaub
. In der Redaktion gab es viele Turbulenzen: Ulfs Redakteur wurde gefeuert, weil seine Tochter in die BRD geflohen war und dort angeblich an einer Hetzkampagne gegen die DDR beteiligt war. Ulf übernahm seinen Posten mit einer Begeisterung, die Dora verachtend kommentierte. Sie meinte, dass dieses Land bald zugrunde gehen werde.
    Na und?, fragte Ulf und fuhr sein Kinn weit nach oben, um den Krawattenknoten zu binden. –
Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht
.
    Deine Arbeit ist aber nicht säen und mähen.
    Soll ich jetzt meine Stelle hinschmeißen, mich wie ein Käfer tot stellen?
    Besser als wie ein Wurm zu kriechen.
    Und was soll ich tun? Straßen fegen? Wir können nicht alle nach Westen flüchten, wir, das ganze Afrika und die Mongolei.
    Wenn man unser Leben mit dem der Mongolen vergleicht, dann leben wir hier absolut schick!
    Soll ich mich dafür entschuldigen, dass mir nichts fehlt?
    Dir fehlt nichts, weil du mit deinen eigenen Händen deine Brötchen aus der puren Scheiße bäckst, nach der es hier überall stinkt!
    Mir stinkt es nicht! Und du kannst nicht leugnen, dass unser Leben hier trotz allem besser ist als je zuvor.
    Meinst du wirklich, dass alles besser wird?
    Nicht so schnell, wie es manchen lieb wäre, aber immerhin!
    Unsinn, den du selbst nicht glaubst! Das wirst du aber nie eingestehen, weil du stur bist! Stur und einfältig, im Kleinen und im Großen!
    Wann, zu welchem Zeitpunkt hatte sie sich in eine andere, offensive und attraktive Frau verwandelt? Hübsch war sie immer: helles leichtes Haar, im Nacken zusammengebunden, mit flauschigen dunklen Wimpern eingefasste blaue Augen; kurze, gerade Nase, eine schöne, herzförmige Oberlippe – auch noch als Dreißigjährige sah sie mädchenhaft frisch aus. Nun türmte sie ihr luftiges Haar zu einer hohen Frisur auf, kaufte sich hohe Schuhe und enge Röcke, und wenn sie schritt, gab das Reiben der Nylon-Beine aneinander ein elektrisierendes Rascheln. Sie bewegte sich königlich, trug ihre Brüste offensiv geradeaus wie eine Galionsfigur und war sichtbar bemüht, auch gesehen zu werden. Je schöner und attraktiver, umso anspruchsvoller wurde sie gegenüber sich selbst und ihrer Umwelt: Sie wollte unbedingt die Lücke zwischen den Schneidezähnen loswerden und trug zuhause eine hässliche Zahnspange, die ihr ein Star-Kieferorthopäde verschrieben hatte. Dann wollte sie die Wohnung unbedingt gründlich renovieren, in eine weiß gestrichene Neubauwohnung hoch unter den Wolken oder überhaupt in den Westen fliehen.
    Lass das, Dora, sagte Ulf, es bringt nichts.
    Natürlich bringt es nichts, das hätte ich schon früher kapieren müssen!, sagte Dora zu ihm, erst ironisch, später dann mit einer fremden Stimme, die vor eingesperrter Wut tief und rau klang.
    Ulf aber wollte nichts ändern, und er hätte genau so noch unendlich lange weiterleben können. Er liebte seine Wohnung, seine Stadt, den Blick aus dem Fenster seiner Redaktion in der zehnten Etage des Verlagshauses; die breite Karl-Marx-Allee mit ihren Moskauer Zuckertürmen. Das Hotel
International
mit seiner Spiegelfassade, in der sich die abendliche Stadt wie eine Glühwürmchenplage reflektierte. Aus den hinteren Fenstern der Redaktion konnte Ulf sein Haus sehen und dahinter die Muschelkolonie zusammengerückter Ockerdächer des Prenzlauer Bergs – er war fünfzig, er war

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