Berlin liegt im Osten (German Edition)
sie, Dora und Ulf, zufällig einige Stunden nebeneinander in der Warteschlange. Doras Gesicht schien Ulf so vertraut, dass er die Augen nicht von ihr abwenden konnte. Sie lächelte ihm entgegen, er sah ihre Lücke zwischen den beiden Schneidezähnen, und er erkannte in ihr ein Mädchen aus seiner Grundschule.
Gleich nach dem Museumsbesuch gingen sie spazieren, nach der Hochzeit fuhren sie an die Ostsee, und als sie zurückkehrten, war die Mauer schon da und es fehlten einige Menschen aus ihrem Umfeld. Die frisch Geehelichten waren trotzdem glücklich. Eifrig bastelten sie an ihren Freuden in der beschnittenen, wie verdünnten Stadt, und sie wuchsen in die sozialistischen Gegebenheiten hinein. Dora wurde gleich nach dem Studium als Lehrerin angestellt, Ulf arbeitete bei einer Zeitung, wo er sich als Berlin-Kenner und als Schreiber für Lokales profilierte und darin bald als unnachahmlich galt. Die Szenen aus dem Berliner Alltag verband er immer mit interessanten historischen Details, da er nicht nur ein diplomierter, sondern auch ein passionierter Historiker war. Seine Kolumnen, gut fundiert und leicht geschrieben (mit einem Funken Humor da und dort), wurden geliebt und geschätzt, und Anfang der achtziger Jahre konnte er sie auch in Buchform veröffentlichen. Die Arbeit am Werk
Durch Berlin mit dem Fernglas
beflügelte ihn.
Herr Seitz und seine Frau waren beide Parteimitglieder, hatten angesehene Stellen und zählten zur soliden, bürgerlich angehauchten Mittelklasse. Über ihre Wohnverhältnisse konnten sie sich auch nicht beklagen: Martha war längst in den Westen gegangen, Herr Stein, der inzwischen Direktor einer Postfiliale geworden war, zog in die benachbarte leere Wohnung, an die er auch das Zimmer anbauen ließ, das er bei Seitzens bewohnt hatte. So hatte die kleine Familie jetzt drei Zimmer von den ursprünglichen vier ganz für sich – ein Luxus für damalige Wohnverhältnisse. Dazu kamen Gasdurchlauferhitzer und Gasheizung – nur wenige Altbauten in der Wilhelm-Pieck-Straße (wie die Lothringer Straße nun hieß) hatten solche Annehmlichkeiten.
Ich vermute, dass ihr Familienleben ziemlich unspektakulär verlief. Die jungen Eheleute – ein Journalist und eine Lehrerin – waren einander sehr nah. Beide liebten Geschichte, zogen die Antike der Moderne vor, lasen einander oft vor und berührten dabei kindisch Gesicht oder Hand des anderen, um die Wirkung der Lektüre zu verstärken. Draußen gingen sie Hand in Hand. Es gibt viele Fotos, wo sie eng aneinandergerückt und mit verflochtenen Händen vor einem geräumigen, gefederten Kinderwagen posieren. Wo ihr Sohn auf dem Boden Eisenbahn spielt, wo Dora im Lichtkreis der Tischlampe Socken flickt oder über Schülerheften gebeugt am Tisch sitzt. Sie sagten beide
wir
statt
ich
und verabschiedeten sich jeden Tag mit Liebeserklärungen. Er konnte
seiner
kranken Dora die ganze Nacht die Hand halten, küsste sie und wärmte ihre kalten Füße in seinen Handflächen. In der Zeit dachte er immer öfter an seine Mutter, an ihre Liebe, die er, ein starker Mann, nun imstande wäre, zu erwidern. Er stellte sich vor, wie gerne sie an seinem Glück teilnehmen würde.
Die ersten Jahre übten sie sich sehr fleißig im Liebesgeschäft. Das verdunkelte Schlafzimmer war immer kühl gewesen – wenn sie abends ihre Kleider auf den Stuhllehnen ablegten, freuten sie sich, unter der Decke zu sein, und drückten sich aneinander wie Hänsel und Gretel, um sich gegenseitig zu wärmen. Dann streichelte Ulf Dora an der Wange, an der Schulter, an der Hüfte, flüsterte ihr tröstende Zärtlichkeiten ins Ohr. Er nahm seine Frau schleichend und vorsichtig, hielt seine Augen dabei geschlossen und dachte an eine andere, eine Amazone, eine Siegerin mit einem roten Mund und enger Taille. Wie die Rotarmistin, die im ersten Kriegssommer an einer Kreuzung mit der roten Fahne gewinkt hatte. Sie hatte einen großen lachenden Mund, war in seinen Träumen frech und gierig, so dass er nicht Angst zu haben brauchte, ihr wehzutun, sich nicht über eine eingeklemmte Haarsträhne oder abgeriebene Knie Gedanken machte. Sich überhaupt keine Gedanken machen musste, stattdessen einfach tiefer und tiefer in diese fremde Frau eindringen und ihr dabei in die Augen schauen konnte.
Dem Verlangen ihres Mannes kam Dora mit freundlicher Bereitschaft entgegen, wenn sich auch nach der Geburt ihre Zärtlichkeit und Empathie langsam auf den Kleinen verlagerten. Nachts, wenn Ulf fertig war, löste sie sich sanft
Weitere Kostenlose Bücher