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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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diese Zeit irgendwo an einem warmen Ort Kaffee oder Tee mit den „Ihren“ trinken. Wir taten das Gleiche. Und vor einem Jahr schmückten wir zusammen den Tannenbaum. Dieses magische schwarze Loch mitten in der Stadt, dieser Fuchs, der mich nicht aus den Augen lässt, diese Musik irgendwo in der Ferne – die vage Vorahnung eines unvermeidlichen Verlustes überkommt mich.
    Ich laufe schneller, weg vom öden Platz, dorthin, wo es Menschen gibt. Die Straßenkreuzung hinter dem Platz ist aber ebenfalls leer, da hier umgebaut wird. Die Häuser um mich sind tot, nur ein Fenster der Musikhochschule ist beleuchtet und wirft langsame Musik aus. Eine Arie. Tosca.
E lucevan le stelle
.
    Ich wende mich nach rechts, dahin, wo über dem Gendarmenmarkt bunte Polarlichter schimmern – dieser Weihnachtsbasar mit seinen weißen, hügeligen Zelten gilt als der edelste in der Stadt. Er erstreckt sich über den ganzen Platz und reicht bis zum Eingang des Konzerthauses, wo ich plötzlich Heidi sehe mit einem Schild in der Hand:
Verkaufe zwei Karten
. Wir mochten uns nie, zum Schluss meines Einsatzes bei Herrn Seitz kam es sogar zu einem unangenehmen Streit – ich tue so, als ob ich sie nicht gesehen hätte, und laufe einfach weiter. Erst schnell, dann aber immer langsamer.
    11. Abonnementkonzert
stand auf dem Plakat. Bach. Schostakovitsch. Gubaidulina. Und Heidi? Was macht sie da mit den Karten von Herrn Seitz? Mit
unseren
Karten: Einst haben wir, Herr Seitz und
ich
, uns auf dieses Konzert so gefreut. Es ist ein Jahr her, ein ganzes Leben … Ich kehre um und laufe zurück zum Konzerthaus. Es sind keine fünfzehn Minuten vergangen, aber Heidi ist schon weg.
    Es ist mir gar nicht nach Schwimmen zumute, ich verlasse die belebte Friedrichstraße, weg vom Konzerthaus, in eine leere Gasse hinein, das dunkle Spreeufer entlang und bleibe auf der Brücke stehen. Keiner da, nur die große bronzene Gertraude, Schutzpatronin der Witwen und der Schiffbrüchigen, ragt in der Dunkelheit übers schwarze Wasser.
Ratten- und Mäusegezücht machst Du zunicht’, aber den Armen im Land reichst Du die Hand
– die Inschrift auf dem Sockel ist unten mit einer Girlande flüchtender bronzener Nager geschmückt. Sie alle heben sich vom dunklen Hintergrund kaum ab, nur eine Maus, die etwas höher sitzt, wirkt wie aus Gold gegossen, glatt poliert von warmen menschlichen Händen. Die goldene Maus sitzt abseits ihres fliehenden Volkes, ganz allein, den Kopf zum Bauch geneigt, und putzt ihr Fell.
    Ich streichle den glatten Mäuserücken – man sagt, dass sich dann Wünsche erfüllen. Ich wünsche mir nur, dass Herr Seitz noch lebt.
    Mühlendamm, Nikolaiviertel, Rotes Rathaus, rechts hinter der Klosterruine das Restaurant
Zur Letzten Instanz
wohin er mich einst eingeladen hat, und wo wir gefüllte Paprika gegessen haben. Meine Schote (groß und prall wie ein Boxerhandschuh) war grün und seine rot. Ich laufe schneller, am Einkaufszentrum
Alexa
vorbei. Das pompöse Gebäude sticht von den sachlich modernen Stadtbauten ab, es hat die makabre Ausstrahlung eines Tempels: seine Größe, die unruhige dunkelrosa Farbe, diese blinde Mauer, gekrönt von lotosartigem Gebälk, unheimlich wie der Pergamon-Altar.
Ninive-Tempel
, pflegte er zu sagen, wenn wir hier vorbeigingen. Warum denke ich im Präteritum an ihn?
    Ich lasse den lauten und lichten Alexanderplatz zu meiner Linken und bleibe verwirrt an der großen Kreuzung stehen: Fast alle mannshohen Buchstaben sind von der Gebäudefassade abmontiert, plötzlich, über Nacht. Der Anfang des Döblin-Zitats ist weg, und das Ende auch. Nur eine Zeile hängt hilflos in der Mitte:
igung von Damenkonfektion, Mehl und Mühlenfabrikate, Autogarage, Feuersozietät. Wiedersehen auf dem Alex …
Da fällt mir ein, dass auch die tadschikische Teestube inzwischen nicht mehr da ist, dass der Laden von Larissa fast weggeräumt ist, dass die Plattenbauten in der Linienstraße saniert und ihre Fassaden mit einem heiteren und zeitgemäßen Make-up versehen werden. Während ich den belanglosen, kupierten Text an dem Haus anstarre, kommt es mir vor, als würden die Wörter unaufhaltsam und immer weiter vor meinen Augen schwinden, als ob ich einem sachten Erdrutsch von der Gegenwart in die Vergangenheit beiwohnen würde. Aber schon an der nächsten Ecke, zu Beginn der Torstraße, wächst etwas nach – das Eckhaus, das neulich mit Gerüsten umhüllt war, ist als
Soho Club
neu geboren. An der Ecke schwärmen Taxis, vor dem Eingang kreiseln

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