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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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restlos aufgeklärt: Willy ist ein tüchtiger Malermeister und ein schlechter Geschäftsmann: Sein Unternehmen kommt nicht in Fahrt und macht Minus. Willy kann sich keine Krankenversicherung leisten, das tägliche Brot schafft Olja mit ihrem Putzen ran. Von diesem Geld werden auch Leckereien gekauft, die Willy wöchentlich ins Heim bringt, wo seine von Alzheimer verstörte und fast erblindete Frau wohnt. Vor dem Bett seiner Frau verbringt er den Sonntagvormittag zusammen mit seinen erwachsenen Söhnen, dann gehen die Männer zu Willy, um zu Mittag zu essen. Die nahrhaften Speisen, die ihnen Olja serviert, nehmen die Söhne gerne zu sich, reden aber mit der Russin kaum; hinter ihrem dicken Rücken machen sie derbe Witze über sie.
    Weil ich ein Niemand hier bin, solange er mich nicht heiratet! Und er kann mich angeblich nicht heiraten, weil er sich angeblich von seiner Frau nicht scheiden lassen kann.
    Ich kann nicht!, schreit Willy, dessen Geduld endlich platzt. – Verstehst du, blöde Hure, ich KANN es nicht!
    Als Marina mich am gleichen Abend wieder fragt, ob ich Herrn Seitz angerufen habe, ziehe ich schweigend die Schultern hoch und denke dabei an Willy und an Olja. Ich will nicht so peinlich sein wie die beiden in ihrer krummen Liebe.
    Diese erzwungene Zweisamkeit, diese gegenseitigen Abhängigkeiten – sie sind aneinandergekettet und so mitleiderregend, dass sie nicht zusammen das Haus verlassen – dick und dünn, alt und doof. Ihre Liebe ist so erniedrigend – wenn es überhaupt eine ist.
    Du musst aus deiner Melancholie raus. Und hör auf, dich vor dem Fernseher zu betrinken. Vielleicht gehst du mal ins Theater oder ins Kino oder ins Schwimmbad. Lass uns überlegen, worauf du dich freuen könntest.
    Ich freue mich für dich, sage ich und es ist wahr: Marina ist glücklich verliebt, und ich freue mich sehr für sie. Nun kämme ich ihr die Haare und schmücke sie, wenn sie zu ihrem Geliebten eilt.
    Ansonsten bleibt alles beim Alten. Schura lässt sich nicht blicken mit dem Geld, ich habe meine Stelle aufgestockt. Das Hamsterrad dreht sich immer leichter, schneller, die fahlen Tage und Nächte huschen an mir vorbei. Der Herbst in diesem Jahr ist schön und bunt wie nie. Selbst trübe Stunden sind von Gelb und Rot gesegnet, als ob die Sonne sich auf die Baumkronen herabließe, um meine ganz gewöhnlichen Wege mit ihrem Gold zu bestreuen. Rote Ahornblätter wandern wie scheue, fliehende Krebse seitwärts der Straßen entlang – ich bin viel unterwegs, weil ich noch zwei Fälle zur Hausbetreuung übernommen habe. Darüber hinaus mache ich neuerdings Nachtschichten im Heim.
    Heute hält mich Frau Gnuschke die ganze Nacht auf Trab. Sie glaubt an einen anrückenden Infarkt und will ins Krankenhaus. Der Notarzt war um Mitternacht hier und schrieb die Schmerzen nicht dem Herzen, sondern dem Magen zu. Das Weitere sollte am nächsten Tag in Ruhe besprochen werden.
    Es ist doch das Herz, Lena, ich weiß, sie wollen mich hier umbringen, flüstert sie mir vertraulich zu.
    Beruhigen Sie sich doch, Frau Gnuschke! – Und was wenn? Wenn es dieses Mal tatsächlich ihr Herz wäre? Die Uhr zeigt halb vier, die Zeit, in der laut Statistik besonders häufig gestorben wird. Ich rufe doch die Rettung an und bleibe bei Frau Gnuschke sitzen. Ich schaue mich in ihrer warmen, gemütlichen Zelle um – war es das Ziel meines Lebens, hierherzukommen?

2
    Es wird nichts mit dem neuen, heiteren Leben, mich zieht es zum alten, trägen – zu meinen Landsleuten.
    Wenn ich in der Nähe bin, schaue ich immer bei Larissa in ihrem Lebensmittelgeschäft vorbei. Im Laden
Rodina
bleibe ich gerne am runden Tisch sitzen und freue mich sehr, wenn sich hier spontan eine kleine Gesellschaft sammelt. Dabei denke ich daran, wie Schura und ich früher einmal davon träumten, in Berlin einen Salon zu haben. Larissa hat meinen Traum fast verwirklicht: sie führt einen kleinen Salon, in dem anstatt von Sekt und Kaviar Hering und Wodka angeboten werden, von auserlesener deutscher Gesellschaft aber keine Spur. Na und? Wir fühlen uns auch unter uns hier wohl.
    Es gab Zeiten in meinem Berliner Leben, wo ich die Russen mied. Am Anfang nimmt sich jeder Ausgewanderte vor, so schnell wie möglich deutsch zu werden, zu wirken, zu ticken. Ein mit tückischen Stolpersteinen übersäter Weg: Der deutsche Humor ist unverständlich, die deutschen Heringe sind ungenießbar und die hiesigen Sitten und Feste undurchschaubar. Wer sind die Heiligen Drei Könige und was ist

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