Berlin liegt im Osten (German Edition)
du hast es bloß vergessen. In diesem Kampf um den Ring.
Sie geht, ich bleibe im dunklen Zimmer stehen. Der Alexanderplatz ist grell beleuchtet. In den Fenstern anderer schimmern Lichterbögen. Ich bin müde und allein, und mir steht die längste Nacht des Jahres bevor.
3
Die Nacht ist wirklich lang, der Morgen trüb und lichtlos. Eine ganze Ewigkeit stehe ich mit dem summenden Hörer am Ohr vor dem Fenster, bis ich endlich erfahre, dass er lebt. Vor zwei Wochen operiert. In der Charité.
Draußen ist es nass. Im grauen Nebel tummeln sich Menschen mit raschelnden Plastiktüten. Manche Tüten sind groß wie ein Überseekoffer. Ich fahre mit der S-Bahn, verpasse die richtige Station und muss nun durch den Campus mit den Rotbackstein-Villen laufen, am Museum vorbei, wo marinierte Nieren in Glasbechern und Augäpfel zu bewundern sind. Wie war das? ‚Schmerz‘, ‚Stigmata‘, ‚Scham‘, ‚Sex brennt‘, ‚platz.wunden‘. Das eigentliche Krankenhaus ist ein Hochhaus mit trüben, gelblichen Fenstern, vor dem Eingang scharen sich Menschen um die Aschenbechersäule, fast alle im Rollstuhl, fast alle einbeinig, einer sogar ganz ohne Beine. Lange irre ich durch die Labyrinthe des Krankenhauses, Scham und Furcht vor der Begegnung verlangsamen meine Schritte, zwei Mal habe ich die nötige Etage verfehlt. Was sage ich ihm? Wie kann ich ihm erklären, dass ich es plötzlich eilig habe, ihn wiederzusehen? Auch wenn ich am Ende eines Korridors Roman davonhuschen ahne und in seinen Rücken starre,
sehe
ich ihn nicht. Viel mehr beschäftigt mich die Frage, wie ich mich auf der Station vorstellen soll, um zu Herrn Seitz vorgelassen zu werden: als seine Pflegekraft? Nachbarin? Freundin?
Die Schwester aber zeigt nur wortlos auf eine Zimmertür und eilt geschäftig davon. Ich klopfe und gehe rein. Vier Betten, auf dem letzten sitzt er – das Gesicht zum Fenster, den Kopf zur Seite, wie ein krankes Tier. Der niedrige Himmel hinterm Fenster ist trist, als ob es gleich dämmern würde.
Ich bin es, sage ich, und er dreht sich um.
Als wir uns vor sieben Jahren kennengelernt haben, schien er mir uralt zu sein. Das war er aber damals noch nicht: Wir haben die ganze Stadt zu Fuß durchmessen, Tagesausflüge nach Potsdam und Cottbus gemacht, und noch vor zwei Jahren im Restaurant
Zur Letzten Instanz
hielt er mir die Tür auf und bewirtete mich wie ein Kavalier. Danach schafften wir ihm das Gehwägelchen an für längere Strecken, dann auch für kürzere, dann einen Rollstuhl – schleichend und leise setzte sich sein Dahinschmelzen fort. Jetzt wirkt er zerbrechlich wie nie, fast durchsichtig. Die etwas vergilbte, welke Haut um den Hals sitzt truthahnlocker. In seinem Gesicht kann ich die Konturen eines Totenkopfes erkennen und auf seiner Stirn die seiner Schädelfugen.
Ich wusste, dass
du
kommst, sagt er. Ich bin froh,
dich
wiederzusehen. – Ich setze mich zu ihm und streichle seine kühle trockene Hand. Wir sitzen nebeneinander auf dem hohen Bett vor dem tiefen Fenster, wie am Rand des Abgrunds. Wir sitzen so lange, bis die Dunkelheit über der Stadt sich mit dichtem, sattem, großblättrigem Schnee entlädt.
Als ich draußen bin, ist der Boden schon weiß. An der Ecke Chausseestraße fällt mir ein, dass die Mandarinen, die ich für den Kranken gekauft habe, immer noch in meiner Tasche sind. Ich verlangsame meine Schritte, drehe mich um und sehe an der nächsten Ecke das große Schaufenster, vor dem ich vor einer Ewigkeit, im Sommer, neben Roman stand. Jetzt fehlt von der damaligen apokalyptischen Stimmung jede Spur.
Weihnachten
steht auf dem großen, nackten Fenster, geschrieben mit plumper Handschrift, so wie ein Kind mit Zahnpasta auf den Spiegel malt. Der Raum hinter dem Fenster ist jetzt weiß und leer, bis auf einen großen runden Tisch in der Mitte. Auf der schneeweißen Tischdecke liegt eine Orange, daneben eine weiße Postkarte, dachartig aufgestellt:
Wie die Liebe in vielen erkalten wird, wird die Ungerechtigkeit überhandnehmen
.
Es ist zu spät, um zu Ulf ins Krankenhaus zurückzukehren, und ich laufe weiter, die endlose Torstraße entlang. Diesen Weg musste auch Ulf mehrmals machen – damals, vor zwanzig Jahren, als er die verunglückte Dora in der Charité besuchte. Auch er trug damals die Mandarinen wieder nach Hause – die erste Zeit wurde Dora künstlich ernährt. Vielleicht wanderte er auch langsam, wie ich es jetzt tue, und schaute in die Schaufenster hinein – ermüdete, protzige, vernachlässigte oder
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