Berlin liegt im Osten (German Edition)
eine Himmelfahrt? Wer auf der Welt soll all die bemalten Herzen vertilgen? Was bedeutet Advent und was hat er mit Shopping zu tun? Natürlich gibt es sehr viele Russen, die diese Hürden genommen haben und in beiden Sprachen feiern, scherzen und fluchen können. Noch mehr aber haben es aufgegeben. Zu Weihnachten fliegen sie nach Mallorca, und den festlichen Tisch decken sie dann zu Silvester. Zum Frauentag und am 9. Mai versammeln sie sich zum Picknick im Treptow-Park, nicht weit von der Sowjetischen Siegessäule.
Es sind meine alten Bekannten, mit denen ich einst die Schulbank im Deutschkurs oder bei den Elternabenden in Marzahn teilte. All die Menschen sind inzwischen noch ein Stück westwärts gezogen und wohnen in Mitte, in den von den Westberlinern gering geschätzten Hochhäusern. In diesen Wohnungen gibt es viele Kissen und viele Topfpflanzen, eine Armada von Gästepantoffeln im Flur, und im Hintergrund summt immer ein russisches Fernsehprogramm, für das die Gastgeber sich ein bisschen schämen.
Das, was ich früher als aufgeklärter Mensch westlicher Prägung mied, bringt mir neuerdings viel unerwartete Freude: die alkoholhaltigen Cocktails, deren Farben an die Versuche eines wahnsinnigen Alchemisten erinnern; nahrhafte, von Mayonnaise überflutete Salate; die polyphonen Gespräche, wo keiner dem anderen zuhört. In seiner Rede unterbrochen, folgt man nicht dem Gedanken seines Gegenübers, sondern lauert auf eine Gelegenheit, seine Partie fortsetzen zu können. Das Gespräch läuft immer schneller, die Kippen im vollen Aschenbecher auf dem Balkon werden immer länger, weil man es immer eiliger hat, sich mit seiner Wahrheit ins Tischgespräch zurückzudrängen.
Wir essen Salami auf Brot und reden über Trennkost. Wir lästern über allgegenwärtige deutsche Geschmacksverstärker, das verworrene deutsche Schulsystem, zickige deutsche Nachbarn, saure deutsche Heringe, aber da, wo die Heringe salzig sind und Halwa süß ist, wollen wir eigentlich nicht hin. Haben wir
dafür
Tausende Kilometer zurückgelegt? Um vor uns hinräuspernd in der Küche zu sitzen und von verlassenen und
vergangenen
Orten zu schwärmen? Unsere lichten Träume haben wir auf den Schultern unserer Kinder abgelegt, und mit uns kann es nur bergab gehen, langsam, aber unaufhaltsam. Und wir haben nichts, was diesen Abstieg aufhalten könnte: Die Krallen sind abgeschabt, die welken Flügelansätze baumeln hinter den Schultern, ulkig klein bei dem immer schwerer werdenden Körper. Den Schwimmkurs schiebe ich immer noch vor mir her, bis Marina, von meiner Trägheit genervt, für mich einen Termin zum Einzelunterricht in einem Bad ausmacht.
Eines Abends im trüben November, als in der Stadt schon überall neurotische Weihnachtslichter vorzeitig funkeln, ist es soweit. Ich packe die neuen Gummilatschen und den Badeanzug in die Tüte, langsam und unwillig, als ob ich in den Krieg ziehen müsste – so sehr widert mich der Gedanke an das kühle Wasser an.
Du musst dich überwinden, danach geht es dir besser, glaub mir! – Marina öffnet die Eingangstür und drückt mir den Sportbeutel in die Hand.
Draußen ist es feucht. Grelle Lichter unter dem dämmrigen Himmel, übervölkerte Straßen, grimmige Gesichter:
Das Weihnachtsgeschäft anzukurbeln ist kein leichter Job.
Stabiles Konsumklima. Demnächst wird sich ein Riesengletscher von der Antarktis lösen. Verbraucher blicken positiv in die Zukunft, ihre Kauflust liegt immer noch auf hohem Niveau
, so die
BZ
.
Der Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz fließt fast nahtlos in einen anderen, von dem man schon den nächsten riechen kann – das ganze Stadtzentrum ist von diesen bunt funkelnden Flechten befallen. Die breiten Gehwege der Karl-Liebknecht-Straße sind voll, viele wandern in Gruppen, lose oder eingehakt. Viele tragen rote Nikolausmützen und gefallen sich dabei sehr.
Segway
-Fahrer überragen die Menge, stolz wie Streitwagenfahrer, kindisch in ihrer Gier nach Spaß. Es ist sehr eng, fest in den Menschenstrudel eingeklemmt, bekomme ich plötzlich Angst. Die Vorstellung, dass ich meinen müden Körper bald ins kalte Wasser tauchen muss, gruselt mich. Meine Beine sind schwer, ich laufe immer langsamer und bleibe schließlich am Rande eines Rummels stehen. Jede Bewegung der Augenmuskeln tut weh, also starre ich direkt vor mich hin, in die verglaste Imbissvitrine mit einer Weihnachtskrippe, die in zarten Pastelltönen ausgeführt ist. Die Scheune, in der Größe eines Puppenhauses, ist aus
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