Berlin liegt im Osten (German Edition)
weißen Würstchen gebaut. Das Dach ist mit Speckscheiben belegt, der Boden mit Sauerkraut bestreut. Die Figuren sind aus rosigen Würstchen unterschiedlicher Größe gebastelt, die drei Könige haben Kronen aus Alufolie. Ihre Augen bestehen aus Pfefferkörnern, als Gewänder haben sie dünne Schinkenscheiben. In der Mitte, wie es sich gehört, steht auf vier dünnen Zahnstocherbeinen eine Kinderkrippe, in der das kleinste Würstchen ruht, mit Schinkenlappen bis auf das augenlose Gesicht umhüllt. Vom
Teufelskessel
her riecht es nach Fleisch und nach Sauerkraut, von anderswo kommt der Geruch nach angebranntem Zucker – von Übelkeit übermannt, kehre ich nach Hause zurück und krieche ins Bett.
Die Grippe, die Marina nur drei Tage hatte, nistet sich in meinem willenlosen Inneren ein, breitet sich aus, nimmt zu und verwandelt sich in eine eitrige Mandelentzündung. Es ist ein ultimatives Kränkeln, wie in der Kindheit, wenn man ganz in sich hineinstürzt und in gesegneter Einsamkeit langsam davonschwebt. In den flüchtigen Schatten, die auf den Wänden vorbeihuschen, erahne ich bekannte Profile, schaffe es aber nie, sie einzuordnen, weil meine ermüdeten Augenlider gleich wieder zusammenfallen. Und während mein Körper fiebert, freut sich meine freie Seele über diese Auszeit.
Du kränkelst irgendwie literarisch, wie ein liebeskrankes Mädchen aus einem dicken Familienroman. Die hatten aber in der Regel ein Dutzend Dienerinnen um sich. Und ich bin hier allein mit euch beiden Pflegebedürftigen. – Marina steht an der Tür mit Kubik an der Leine. Jetzt, als es mir deutlich besser geht, darf sie endlich auch murren.
Und viele starben sogar! – Ich sitze schon am Küchentisch, rühre Honig und Zitrone in meinen Tee und schaue aus dem Fenster zum Alexanderplatz hinüber. Soll das eine Art Wiedergeburt sein, ein Präludium zu neuem Glück?
Das Leben danach fühlt sich tatsächlich anders an, heiterer. Zumindest vorerst: Ich freue mich, wieder zur Arbeit zu gehen; mir schmeichelt, wenn ich höre, dass mich alle vermisst haben – Maria, meine Kollegen und sogar Frau Gnuschke. Auch mit dem bunten Tohuwabohu in der Stadt fühle ich mich fast versöhnt, als ich mich eines Abends überwinde und mit dem Sportbeutel aus dem Haus gehe.
Nach der übervölkerten Brücke in den Schlossplatz abgebogen, gerate ich in Dunkelheit und bin auf einmal ganz allein. Die konkave Wiese, von erhöhten Gehwegen durchkreuzt, hat die Größe eines Stadions, die Holzstege unter meinen Füßen sind glitschig und nass. Das Berliner Schloss, das dem Platz seinen Namen gab, wurde gleich nach dem Krieg gesprengt. Sein Nachfolger, der Palast der Republik, später dann auch. Jetzt erstreckt sich mitten in der Stadt eine dunkle Wüste, ein schwarzes Loch, umzingelt von grellen Rummelplätzen.
Ich kann mich noch an den Palast der Republik erinnern, wie er an der Schwelle des neuen Zeitalters hier geräumt und geplündert stand, und wie eines Tages auf seinem Dach sieben riesige Buchstaben emporstiegen:
Zweifel
. Das Wort war von fast jeder Ecke meines Reviers zu sehen und schwebte da, wo sich jetzt ein Riesenrad dreht. Mit bunten Leuchten geschmückt, besetzt es einen halben Himmel. Seine Gondeln sind leer, es dreht sich dennoch – langsam, aber unaufhaltsam, die Geräusche des fleißigen Triebrads höre ich als Schmatzen und Rattern einer gigantischen, alles verschlingenden Maschine.
Meine schnellen Schritte auf den nassen Brettern hallen über dem dunklen, leeren Feld, im Angesicht des Riesenrads komme ich mir klein vor, verloren und allein wie in einem Märchen. Zu allem Überfluss sehe ich plötzlich einen Fuchs auf einer kleinen Kuppe stehen: der spitze Keil seines Mauls und die großen Ohren. Die archäologische Ausgrabungsstätte ist eingezäunt, und der Fuchs scheint sich hier in den offengelegten Gedärmen des ehemaligen Schlosses geborgen zu fühlen. Er schaut mir in die Augen, dann schmiegt er Pfoten und Brust an die Erde, so wie ein Hund ein ihm vertrautes Wesen zum Spielen einlädt. Ganz wie der Wüstenfuchs im ‚Kleinen Prinzen‘, damals im Admiralspalast. Da waren fast nur Kinder-Eltern-Grüppchen, und im Buffet verfielen wir, Herr Seitz und ich, dieser Dynamik, und er fütterte mich mit klebrigen Donuts und wischte mir den Mundwinkel mit seinem Daumen ab, und er entschuldigte sich gleich, die Hand habe sich beim Sprechen selbstständig gemacht. Es war ein Sonntag, die Friedrichstraße war leer, weil die anständigen Menschen um
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