Berlin liegt im Osten (German Edition)
schon deinen Teil! Schäm dich!
Ich hole den Ring aus meinem Zimmer, werfe ihn die Treppe hinunter und zeige Schura die geöffnete Tür.
Scher dich raus mit deinem Ring und vergiss den Weg hierher, du Geier!
Schura hebt seinen Schatz auf und kehrt, wild um sich schauend, zurück. Dann holt er die Mülltüten aus der Küche, schüttelt sie über den Stufen des Treppenhauses aus und marschiert triumphierend die Treppe hinunter. Marina rennt ihm hinterher, den Schal in der Hand, den er vergessen hat.
Während ich den Müll wieder in die Tüte sammle, kommt Marina zurück, Schuras Schal in der Hand – offenbar hat sie ihn nicht eingeholt. Ich kehre die klebrigen Scherben eines zerschlagenen Marmeladenglases zusammen und folge Marina in ihr Zimmer. Sie sitzt am Tisch und versucht, einen Krümel zwischen den Laptoptasten mit einem Holzzahnstocher herauszubekommen. Diese sachliche Ordnung. Wenig Zeug, nichts Überflüssiges, alles weiß. Woher hat sie das? Wie eine Deutsche. Die Ikonen an der Wand. Ich habe sie damals mitgebracht und nicht aufgehängt, um mein Image als emanzipierte und westliche Frau nicht zu kompromittieren. Hier aber, bei einer wahrhaft modernen jungen Dame, wirkt die von Kitsch angehauchte Heiligkeit nicht deplatziert, sondern sogar passend. Vor allem die unkonventionelle Anna mit der schwangeren Maria auf dem Schoß.
Marina hört, dass ich da bin, schaut aber nicht zu mir her.
Warum verteidigst du ihn immer? Egal, was er macht?, fauche ich.
Du warst gegenüber deinem eigenen Vater auch immer sehr nachsichtig. – Sie beugt sich noch tiefer und geschäftiger über die Tastatur.
Woher willst du das wissen?
Alle wissen es.
Was?
Dass er betrunken am Steuer des Helikopters gesessen ist. Du weißt es auch, redest aber über seinen heldenhaften Tod! – Endlich schaut sie zu mir auf.
Das stimmt alles nicht so ganz!
Und alle wissen, dass er Oma betrogen hat! Nur du tust so, als ob du keine Ahnung davon hättest. So. – Sie pustet auf die gesäuberte Tastatur und klappt das Notebook zu – zart und liebevoll, als ob es ein Lebewesen wäre.
Natürlich weiß ich es. Meine Erinnerung aber will es nicht wissen, sie hat die Chronik nach ihrem Geschmack montiert, und Ausschuss ist irgendwo in einem verstaubten Winkel meiner Seele gestrandet. Manche Bilder sind hoffnungslos verschwommen und aufgelöst, manche sind scharf und deutlich genug: Meine Mutter sitzt mit einer Schere in der Hand vor einem Haufen Schwarzweißfotos und sucht nach einem geeigneten Bild für den Grabstein, einem, das in den ovalen Rahmen passen könnte. Ich weiß noch, dass dieser Rahmen nicht größer war als damals meine Handfläche. Da kommt Herr Kotov und reißt ihr die Schere aus der Hand.
Mit dem Ehepaar Kotov teilten wir die Küche, und nach dem Unfall erfuhr nun auch unser Nachbar, dass mein Vater sich in einem
unsittlichen Verhältnis
mit seiner Frau befunden hatte.
Fast alle Kema-Fotos wurden von Herrn Kotov geschossen, und auf allen Gruppenbildern standen sie nebeneinander, mein Vater und unsere Nachbarin. Herr Kotov nahm meiner Mutter die Schere aus der Hand und schnitt sowohl die Julia (wie seine Frau mit Vornamen hieß) als auch ihren Romeo aus allen Bildern heraus. Dann warf er die Schnipsel der Bilder und Kleider, Wäsche und Lippenstifte seiner Frau in den Hof hinaus. Tags darauf stieg Frau Kotov (mit blauen Flecken im Gesicht und dem braunen Koffer in der Hand) in den Hubschrauber und verließ Kema für immer. Mehrere Tage lang lagen ihre Sachen noch im Hof, schmutzig und verstaubt. Keiner, nicht einmal wir Kinder, hat sie angefasst. Nur das Ferkel Rex, das Frau Kotov gemästet hatte, wühlte mit dem Rüssel in den geschändeten Kleidern seiner Besitzerin, die es bis zu seinem baldigen Tod unter dem Messer wie ein Hund vermisste. Dann aß Herr Kotov Rex auf. Er briet das Schwein in großen Stücken. Täglich stand er mit zusammengepressten Lippen vor der Pfanne, und sein Fressmarathon hatte etwas Frühmenschliches, Kannibalisches. Der Geruch des gebratenen Rex steigt mir wieder in die Nase, als ich die Pfanne mit den Essensresten sehe: dunkel angelaufene Kartoffelstücke im kalten weißen Schweinefett.
Die Kehrschaufel ist mit ausgelaufener Marmelade verschmiert und mit Staub, Schmutz und totem Haar bedeckt. Schuras vergessener grauer Schal auf der Stuhllehne. Marina im Mantel an der Türschwelle.
Kommst du heute wieder?
Nein.
Warum denn plötzlich nein?
Ich habe dir gesagt, dass ich heute nicht hier bin,
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