Berliner Aufklaerung - Roman
mal ein Referat zusammen gehalten hatten. Es war eine ziemliche Katastrophe gewesen. »Ich glaube, du verwechselst mich da mit jemandem. Ich bin nämlich heute das erste Mal in diesem Institut.«
Der Kommilitone legte die Stirn in Falten und kratzte sich an seinem Vollbart. »Das ist jetzt aber merkwürdig. Du bist wirklich nicht Anja Abakowitz? Ich hätte schwören können, daß du es bist.«
»Tja, das wär ’n Meineid geworden.«
Der Mathematiker, der sich durch die Konversation in seinen Gedankenkreisen gestört fühlte, schickte strenge Blicke zu den Ruhestörern. Der Vollbärtige trat den Rückzug an. »Ja, dann muß ich mich wohl geirrt haben. Tut mir leid.«
Er kehrte zu seinem Tisch zurück, auf dem sich einige Bände Heidegger den Platz mit einer roten Thermoskanne aus Plastik, zwei Packungen Taschentüchern und mehreren Stullen in Butterbrotpapier teilten.
Anja wandte sich wieder dem Buch vor ihr zu.
»Das Selbst entwickelt sich in einer Dunkelkammer. «
Der Schwan hatte den Kopf unter dem rechten Flügel versteckt. Offensichtlich war es ihm zu naß geworden da draußen.
Der vollbärtige Kommilitone blickte von Zeit zu
Zeit zu Anja herüber, während er nachdenklich an einem seiner Butterbrote kaute. Soweit Anja es riechen konnte, handelte es sich um ein Brot mit demselben Käse, der die Grundlage für Ulfs »Handkäs’ mit Musik« bildete.
Die kommunistische Trutzburg war immer noch verwaist, der Denker ohne Bücher war dagegen an seinen Platz zurückgekehrt und rückte das Blätterbündel vor sich zum wiederholten Male zurecht. An einem anderen Tisch, unweit von dem Anjas, schlief jemand, vornüber auf die Tischplatte gekippt, den Kopf auf die angewinkelten Arme gelegt. Da er auf dem Buch lag, in welchem er vorher gelesen hatte, konnte Anja nicht erkennen, welche Lektüre ihn so sanft hatte entschlummern lassen.
»Auch die Menschheit ist letztlich allein.«
Anja klappte mit spitzen Fingern die »Gedanken-Striche« zu, dieser existentialistische Exhibitionismus hatte sie schon immer angeekelt.
Am Tisch des Puristen erklangen die leisen Kratzlaute einer Füllerspitze, die stockend übers Papier geführt wird.
Ohne besondere Neugier wandte sich Anja nach dem abgründigen Selbst Maier-Abendroths seinem öffentlichen zu. Das Vorwort verriet ihr, daß hier zum ersten Mal alle wichtigen politischen Reden und Aufsätze dieses bedeutenden Denkers versammelt seien. Anja beschloß, sich die Rede »Das Problem der Homosexualität in der Antike und heute« vorzunehmen, gehalten am fünften Dezember neunzehnhundertzweiundneunzig im Rahmen des Symposiums »Gemeinschaft und Homosexualität«, veranstaltet von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bonn.
»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Stipendiaten! Es ist weithin bekannt, daß wir Kommunitaristen – wir Verfechter der starken Gemeinschaft – eine Rückbesinnung auf die Werte der Vormoderne für unumgänglich halten. Aus dem Zustand, in welchem sich die westlichen Gesellschaften am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts befinden, können wir nur die eine Einsicht gewinnen: das Projekt der Moderne ist gescheitert. Zerrüttete Familien, wachsende Jugendkriminalität, psychische Deformationen des modernen Subjekts: das ist die Ernte, die mit der Aufklärung gesät wurde und nun eingebracht wird. Die Zertrümmerung aller traditionellen Werte, aller geordneten Hierarchien hat den Menschen nicht in die Freiheit entlassen, sondern in das Chaos. Not tut ein neuerlicher Wertewandel, und zwar ein Wandel zurück zu den Werten.«
Der Schwan war aus dem Weiher verschwunden. Nur noch der Regen tropfte seine Kreise auf die Wasseroberfläche. Der asketische Kommunist war immer noch nicht an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt.
»Seit nunmehr über zweihundert Jahren hören wir, daß den Staat, die Öffentlichkeit, der private Lebenswandel des Einzelnen nichts angeht. Dies ist ein Irrtum. Der Umstand, daß selbst die Randgruppen der Gesellschaft sich nicht damit begnügen, ihren Sonderneigungen im Privaten nachzugehen, sondern mit ihnen in die öffentliche Sphäre drängen, beweist, daß Privatheit eine Schimäre ist, an die nicht einmal diejenigen glauben, die diesen Begriff strapazieren. Ich frage: Geht es die Öffentlichkeit nichts an, wenn Homosexuelle in Aufmärschen durch unsere Städte ziehen, wenn gleichgeschlechtliche Paare die Standesämter
belagern, wenn unsere Kinder tagtäglich in Schulen, Bussen und auf Straßen in Versuchung
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