Berliner Aufklaerung - Roman
Schreiners insgeheim von je verfallen war. Im vermeintlichen Fortgang zu Themen der Moderne vollzieht sich der Rückschritt zum Ältesten.« Wogners Blick verlor sich hinter Anja. »Absurd hat in unseren Tagen der Drang zu regressiven Themen sich stabilisiert. Im Stande der vollendeten Ohnmacht neigt das Subjekt sich zurück zu seinen Ursprüngen, um eine Unschuld zu suchen, die auch dort längst schon verscherzt wurde.« Aus seiner verbeulten Anzugtasche holte Wogner Pfeifenputzer, Tabaksbeutel und ein Briefchen Streichhölzer.
Anja versuchte möglichst unauffällig ihr Gewicht von einem Fuß auf den andern zu verlagern. Außer dem Klavierhocker stand noch ein alter Holzstuhl im Raum, vielleicht sollte sie sich unaufgefordert setzen. Zu ihrer eigenen Verwunderung stellte Anja fest, daß sie sich nicht traute, Bewegung in den Raum zu bringen. Die Zeit kroch wie zäher Schleim.
Wogner öffnete den Tabaksbeutel und stopfte seine Pfeife. »Kaum je entstand Gutes, wenn die Differenz zwischen Frühgeschichte und Neuzeit eingezogen wurde. Die Kategorie der Rache gehört einem Denken
an, das noch nicht sich emanzipiert hat vom Gedanken der Blutsbande. Hingegen entstammt der Begriff der Notwehr einer Zeit, in der das Subjekt die Ansprüche übermächtiger Lebenszusammenhänge von sich wies, um auf seine Einzelheit sich zu besinnen.«
Das Fauchen eines angerissenen Streichholzes ließ Anja zusammenzucken. Wogner paffte einige Züge aus seiner angezündeten Pfeife. Gern hätte sie jetzt selbst eine Zigarette geraucht. Es war im Zimmer zunehmend dämmrig geworden, durch das schmale Fenster schickte der verregnete Oktoberhimmel nur wenig Licht.
Wogner schien Anja zwischenzeitlich wieder vergessen zu haben, denn er fuhr leicht zusammen, als sie zu reden begann. »Sie sind also nicht bereit, meine Arbeit anzunehmen?«
Der Professor rückte seine Brille zurecht. »Unversöhnbar ist der objektive Antagonismus zwischen der Denkweise Rudolf Schreiners und einem Denken, das ich vertreten kann. Kein Segen wird darin liegen, eine Zusammenarbeit zu erzwingen, die von Anfang an als gewaltsam sich erkennen muß.«
Anja schwitzte unter ihrer Strumpfhose. Der Raum war völlig überheizt. »Sie halten mein Dissertationsthema für ungeeignet? Auch wenn man den Begriff der Notwehr erweitert und moderne Rachephänomene als ›geistige Notwehr‹ uminterpretiert?«
Wogner kratzte sich mit seiner zarten, faltigen Hand am Schädel. »Noch einmal muß ich betonen: Unversöhnte Gegensätze lassen nicht sich eskamotieren, indem Zuflucht bei der beliebigen Umdeutung von Begriffen gesucht wird. Solche Methode, selten frei von Hinterlist, bedeutet die unwiderrufliche Kapitulation einer jeglichen Philosophie, die es ernst meint.«
Anja sah, daß hier nicht mehr viel zu retten war. Die Bluse klebte ihr am Rücken. »Können Sie mir vielleicht wenigstens einen Kollegen empfehlen, der meine Arbeit annehmen würde?«
Wogner legte seine Hände wieder auf die Klaviertastatur und drückte stumm einige Tasten. »Nicht ist es meine Aufgabe, Studierenden die Orientierung abzunehmen, die selbst sie leisten müssen. Wer in die Philosophie sich begibt, muß seine Wege finden. Dennoch kann ich Ihnen nicht verschweigen, daß dieses Thema eine Verirrung darstellt, die nur philosophische Scharlatane akzeptieren werden. Kein ernsthafter Denker kann auf dergleichen Raisonnement sich einlassen. «
Anja wagte einen letzten Versuch. »Sie meinen also, daß auch Frau Professor Lux diese Arbeit ablehnen wird? An sie hätte ich nämlich als nächste gedacht.«
Hinrich Wogner streifte Anja mit ausdruckslosen Augen. »Hat es in der Öffentlichkeit dieses Institutes noch nicht sich herumgesprochen, daß auch Frau Lux tot ist?«
Anja gab sich keine sonderliche Mühe, überrascht zu wirken, denn Wogners Blick war inzwischen wieder auf das Klavier gesunken. Langsam spreizten sich seine Finger über den Tasten. Es erklangen die ersten unharmonischen Akkorde eines Stückes, das Anja nicht kannte und das vielleicht auch gar kein Stück war. Wogner hatte die Augen geschlossen. »Wer die Philosophie sucht, kommt in ihr um.«
PHILOSOPHISCHE BROCKEN
Anja stieg die Treppe ins Foyer hinab. Auf das cremefarbene, zerschlissene Ledersofa, das frühere Fachschaftsgenerationen vom Sperrmüll geholt hatten, ließ sie sich fallen. Eigentlich hatte sie bereits genug für heute. Gern wäre sie nach Hause gefahren und hätte sich ins Bett gelegt.
Mißmutig steckte sich Anja die erste
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