Berliner Aufklaerung - Roman
es aus wie ordinäre Körner, und schmecken tat es auch so. Anja ließ den kleinen Hügel weiter unbeachtet liegen und machte sich daran, mit ihrem Fischmesser das eine Seezungenfilet zu halbieren. »Sie soll sich mit ihrem Brieföffner selbst in die Brust gestochen haben. Haben Sie das schon mal ausprobiert? «
Der Jurist wiegte nachdenklich den Kopf, während er auf einer Gabel gebutterter »Grenaille« herumkaute. »Der autoinduzierte finale Stich kommt in der Tat als Suizidform äußerst selten vor. Ich entsinne mich nur eines einzigen Falles, wo sich eine abgedankte Opernsängerin während einer »Tosca«-Vorstellung zu erdolchen versucht hatte. Ich weiß nicht, ob es ihr gelungen ist.«
Anja klappte das zweite Seezungenfilet zusammen und schob es sich in den Mund. »Schließlich war Rebecca aber keine Opernfurie. Ich glaube nicht, daß sie den Elan hatte, sich ein Briefmesser zwischen die Rippen zu jagen.«
Mit einem Schluck »Meursault« beendete Stammheimer seinen Hauptgang. »Ich werde der Sache einmal nachgehen. Am Montag lasse ich mir die entsprechenden Akten kommen, ich werde Sie dann informieren. Bis dahin sollten Sie aber Ihre Theorie für sich behalten, schließlich erheben Sie keine geringe Anschuldigung gegen Herrn Maier-Abendroth. Da können Sie sich schnell eine Verleumdungsklage einhandeln. «
Anja schluckte den letzten Bissen Seezunge. In Stammheimer schien sie keinen Verbündeten zu finden, aber wenn sie Rebeccas Mörder doch noch stellen wollte, würde sie schließlich auch alleine klarkommen.
Stammheimer drehte nachdenklich das Weinglas in der Hand, während der Kellner mit dezentem Klappern die Teller abdeckte. »Da fällt mir etwas ganz anderes ein.« Mit einem versonnenen Lächeln strich der Jurist imaginäre Falten in seiner Damastserviette glatt. »Es könnte Schwierigkeiten mit der Sicherheitsleistung geben.«
»Inwiefern?« Anja blickte irritiert von ihrem leeren Glas auf. Die Kaution, die sie — beziehungsweise Hektor — für Rebecca gestellt hatte, hatte sie in dem Trubel der vergangenen Tage vollständig vergessen. »Inwiefern könnte es Schwierigkeiten geben?«
»Nun ja«, um Stammheimers Mundwinkel spielte das verhaltene Lächeln professionellen Ehrgeizes, »es ist in der Jurisprudenz kein ganz alltäglicher Fall, und ich müßte in den Kommentaren genauer nachsehen — aber es könnte sein, daß Sie Ihre Kaution nicht zurückerhalten. «
»Wie bitte?« Anja ließ die Weinflasche, die sie gerade aus dem Eiskübel herausheben wollte, wieder zurücksinken. Ein wenig Eiswasser schwappte über.
»Die Kaution wird als Sicherheit verstanden, den ungestörten Gang der Untersuchung zu gewährleisten. Darüber hinaus soll sie garantieren, daß der Verurteilte seine Freiheitsstrafe auch antritt.«
Anja griff erneut zur Weinflasche und füllte ihr Glas.
»Die Kaution wird zurückgezahlt, entweder wenn der Angeklagte in die Untersuchungshaft zurückkehrt, oder — falls inzwischen das Urteil erging — wenn er seine Haftstrafe antritt. Im Falle eines Freispruchs selbstverständlich auch. Wenn der Angeklagte sich der Haft entzieht, wird die Kaution jedoch so lange einbehalten, bis der Flüchtige wieder gefaßt ist. Wird der Angeklagte
während der Haftaussetzung ermordet, dürfte die Kaution sicher anstandslos zurückgezahlt werden, ich bin mir jedoch nicht sicher, wie die Rechtslage im Falle eines Selbstmords des Angeklagten aussieht.«
»Aber das ist doch völliger Blödsinn. Was soll denn die Kaution jetzt noch für einen Zweck haben?« Anja nahm einen kräftigen Schluck.
»Sehen Sie, in gewisser Hinsicht ist Selbstmord durchaus eine Art, sich der Haftstrafe zu entziehen — das läßt sich nicht leugnen. Aber keine übereilte Aufregung, liebe Frau Abakowitz, ich bin mir ja noch gar nicht sicher, ob es sich so verhält. Ich sage nur, daß es ein juristisch interessanter Fall sein könnte.«
Bevor Anjas alkoholgesättigtes Hirn das, was Stammheimer ihm eben mitgeteilt hatte, in seiner ganzen Tragweite erfassen konnte, servierte der Kellner den Nachtisch: zwei große schwarze Teller mit kunstvoll arrangierten Fruchtscheiben und -stücken. Anja stützte den Kopf in die Hände. Sie beobachtete Stammheimer, der mit Delikatesse überzuckerte Kiwi-, Papaya- und Erdbeerschnitze auf seine Dessertgabel spießte. Wie sollte sie das Hektor erklären? Anjas trüber Blick verlor sich hinter ihrem »Dialog der Früchte«.
PLÖTZLICHKEIT
Blaulichter zerschnitten die Nacht. Kurz vor dem
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