Berliner Aufklaerung - Roman
verschwand, ließ Anja ihren Blick durch die Denkerklause schweifen. Ein Paar Herrenunterhosen aus Rippenstrick über der Armlehne des Sofas. Verwaschene dunkelgraue bis dunkelbraune Herrensocken am Wäscheständer. Auf dem kleinen Couchtischchen »Kiefer natur« standen zwei Gläser mit Weinresten herum. Eines der Gläser trug die Spuren von dunkelrotem Lippenstift. Der Schreibtisch – ebenfalls »Kiefer natur« – war mit Papier- und Bücherbergen überladen, der Computer angeschaltet. Von Ferne erkannte Anja auf dem Bildschirm die Zeichensprache der formalen Logik.
Sie gähnte, als Lévi-Brunes schlaksige Gestalt über die Zimmerschwelle stolperte.
»Äh, ich kann im Augenblick den Aschenbecher leider nicht finden. Geht solange diese Untertasse?«
Anja zeigte mit ihrer Prince Denmark auf einen billigen weißen Glasaschenbecher, der zwischen den Gläsern auf dem Couchtisch stand. Die sechs Kippen, die in ihm lagen, trugen ebenfalls Spuren des dunkelroten Lippenstifts. »Suchen Sie vielleicht den hier?«
Lévi-Brune lachte verlegen auf. »Ach, da ist er ja. So
was, es scheint, ich bin heute mit Blindheit geschlagen. « Er setzte sich, ohne die braune Untertasse aus der Hand zu legen. Mit etwas zu langen Fingernägeln kratzte er auf der Glasur herum. »Also, was mir zu Schreiner einfällt. Nun ja, die ganze Sache ist schon – äh: überraschend.«
»Wieso überraschend? Ich habe gehört, Schreiner hätte am Institut in letzter Zeit ’ne Menge Ärger gehabt. «
Lévi-Brune schaute Anja durch seine dicken Brillengläser hindurch an und senkte dann den Kopf. »Ach ja? Wissen Sie, ich sitze an meiner Habilitation, und wenn man mich in Ruhe läßt, halte ich mich aus den ganzen Geschichten am Institut heraus.«
»Könnten Sie etwas lauter sprechen?«
»Ich sagte nur: Ich äh, ich weiß von nichts.«
Anja schickte mit halb geschlossenen Augen Rauchkringel an die Decke. »Da sind einige Ihrer Kollegen aber anderer Ansicht.«
Das Kratzen auf der Untertasse wurde schneller. »Wie meinen Sie das?«
»Man sagt, Sie hätten allen Grund, Schreiners Tod nicht zu bedauern.«
Lévi-Brune errötete leicht. »Das stimmt nicht. Ich habe – äh, ich war mit Schreiner nicht direkt befreundet, aber das hat doch mit seinem Tod nichts zu tun.«
»Was heißt ›nicht direkt befreundet‹?« Die Kratzgeräusche auf der Untertasse erregten in Anja dasselbe Unbehagen wie einstmals die quietschende Kreide auf der Schultafel. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare langsam aufrichteten.
»Wie soll ich sagen, Schreiner machte des öfteren antisemitische Bemerkungen. Sie werden verstehen,
daß dies keine — äh keine gute Grundlage für eine Freundschaft war.«
»Warum sagen Sie dann nicht gleich, daß Sie ihn gehaßt haben?«
»Nein, das stimmt nicht. Ich habe Schreiner nicht gehaßt. Ich bedaure seinen Tod.«
»Seine Ermordung.« Anja drückte ihre Zigarette neben den anderen, lippenstiftverschmierten Kippen aus. »In welchem Verhältnis stehen Sie zu Frau Uhse?«
Die Untertasse fiel geräuschlos zu Boden, auf den zotteligen weißen Flokati-Teppich. »Wieso, äh, ich meine: Was hat Frau Uhse denn mit der Angelegenheit zu tun?«
»Ich habe Sie nur gefragt, in welchem Verhältnis Sie zu ihr stehen.«
Während Lévi-Brune sich bückte, klopfte Anja eine neue Prince Denmark aus dem Päckchen.
»Ich verstehe nicht recht, weshalb das für Ihren Fall von Bedeutung sein soll.«
»So wie es aussieht, ist auch Frau Uhse durch Schreiners Tod nicht unbedingt erschüttert worden. — Gleich und gleich gesellt sich gern.«
Mit leicht zitternden Händen stellte Lévi-Brune die Untertasse auf dem Couchtisch ab. »Äh, wir — wir sind befreundet.« Er warf einen flüchtigen Blick auf das lippenstiftverschmierte Weinglas.
Anja ließ ihr Feuerzeug aufflammen, um sich die neue Zigarette anzustecken. »Können Sie das ein wenig konkretisieren?«
»Ich verstehe wirklich nicht, wieso Sie das interessiert. Wenn Sie glauben, daß Frau Uhse und ich unter einer Decke stecken — äh, Komplizen sind, so irren Sie sich.«
Mit der Freundlichkeit einer Kreuzspinne grinste Anja durch die blaue Dunstwolke hindurch, die sie soeben ausgestoßen hatte. »Herr Lévi-Brune, Sie haben mir meine Frage immer noch nicht beantwortet.«
DER FEINE UNTERSCHIED
Gelangweilt spielte Anja mit den Lippenstiftspuren auf ihrem Weinglas herum. Es war halb neun. Pünktlich Viertel nach acht — um Stammheimer die höfliche Chance zu geben, vor ihr da zu sein —
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