Berliner Zimmer - Roman
Stimme, „er hat ja alles horten müssen. Und die ganze Zeit ein großes Geheimnis darum gemacht. Euer Vater hatte ja immer Geheimnisse, vor allen.“
Mama musste von Anfang an mitgehört oder irgendwann den zweiten Hörer abgenommen haben. Vielleicht war sie aufgewacht, oder Gregor hatte gelogen, dass er sie ins Bett gebracht habe.
„Hallo, Mutter“, sagte ich.
„Diese vergammelten Papiere“, fuhr Mama fort, „du hättest sie längst verbrennen sollen. Aber du verschwindest ja immer gleich, wenn du mal da bist. Gottseidank war Gregor so nett, herzukommen und mir zur Seite zu stehen.“
„Danke, Mama“, sagte ich. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen und mich daran zu erinnern, ob Mutter jemals ein Wort darüber verloren hatte, Vaters Papiere zu vernichten. Ich hätte mich ohnehin dagegen gewehrt, Vaters persönliche Unterlagen einfach zu verbrennen.
„Aber es fehlen ganze Jahre“, schoss es aus Gregor heraus.
„Vielleicht hat er sie selbst schon aussortiert“, sagte ich. Vielleicht haben Mama und er ein Feuerchen im Garten gemacht und die Vergangenheit …“
„Niemals“, fuhr Gregor dazwischen, „du weißt nichts von Vater. Du hast keine Ahnung, wie er war.“
Gregor mochte recht haben. Vater hätte bestimmt nichts von dem, was er in seinem Ordnungswahn angehäuft hatte, weggeschmissen.
„Mutter“, sagte ich, „hast du etwa allein …?“
„Das waren doch nur irgendwelche Zettel, nutzloses Papier“, rief Mama empört in den Hörer, „alte Eintrittskarten ins Kino, irgendwelche Theaterprogramme, vergilbte Ansichtskarten und so Zeug. Du hast keine Ahnung, wie das riecht, dieser alte Krempel!“
„Was war das, Mutter?“, rief jetzt Gregor. Mama musste wohl in ihrem Schlafzimmer sein und dort den Hörer abgenommen haben.
„Das waren doch nur die Sachen von damals“, rechtfertigte sie sich, „von damals, wo er in diesem Krieg war. Das ist doch eine Ewigkeit her. Das war doch lange vor eurer Geburt.“
Ich hörte, wie Alma nebenan durch die Diele ging, die Tür zum Bad öffnete und wieder schloss. Vielleicht hatte sie auch nicht einschlafen können oder sie war plötzlich wach geworden.
„Die Unterlagen aus der Nazizeit“, sagte ich, „ist das nicht gesetzlich verboten?“
„Sag doch nicht so was“, entgegnete jetzt Mama, „wo er doch eine so schöne Schrift hatte, schon damals.“
„Bestimmt wegen der Zensur“, sagte ich.
„Ach, was du immer zu kritisieren hast“, sagte Mama, und dann hörte ich, wie sie seufzte und nach Gregor rief.
Irgendetwas kratzte in der Leitung, vielleicht wühlte einer von den beiden in Vaters Hinterlassenschaft, und dann hörte ich, wie Gregor mit Mama schrie, nicht über das Telefon, sondern durch das Treppenhaus hinauf in den ersten Stock, wo das Elternschlafzimmer lag. Er klang richtig empört, aber ich konnte kein Wort verstehen, auch nicht, was Mama antwortete. Als er den Hörer wieder ans Ohr hielt, fragte ich ihn, warum er sich so aufrege.
„Sie hat alles in den Müll geschmissen“, schrie Gregor und schimpfte über Mamas Dummheit. Mir warf er vor, dass ich sie längst hätte zum Arzt bringen müssen, wo sie doch hochgradig dement sei.
„Ach, so plötzlich“, sagte ich, aber Gregor reagierte nicht.
„Das geht euch doch nichts an“, hörte ich jetzt Mama, „das sind die Geschichten, die ich mit eurem Vater auszumachen habe und sonst mit niemandem.“
„Was für Geschichten, Mama?“, fragte ich, aber sie hatte bereits aufgelegt.
Ich weiß nicht mehr genau, wann uns Heranwachsenden klar wurde, dass Vater als junger Soldat im Krieg gewesen war, irgendwo in diesem zweiten Weltkrieg. Wohl nur mehr für ein paar Monate, da er aufgrund seines Alters erst kurz vor Kriegsende hatte eingezogen werden können, aber er war Soldat in Hitlers Armee gewesen. Wie so viele hatte er die längste Zeit seines Lebens nie ein Wort darüber verloren, auch meine Mutter nicht, und mir war es nie eingefallen, danach zu fragen. Vaters Vergangenheit war kein Thema gewesen, über das in der Familie geredet worden wäre, und vielleicht gehört es zu den Aufgaben guter Söhne, sich innerlich zu weigern nachzurechnen, wie alt ihre Väter während des Krieges gewesen waren. Zudem war Deutschland weit weg und hatte mit uns nichts zu tun. Als im Fernsehen die ersten schockierenden Bilder über die Judenverfolgung und den Holocaust zu sehen waren, starrten wir entsetzt und gebannt in den Apparat. Und auch Gregor hatte bestimmt keine Ahnung gehabt. Oder
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