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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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geflissentlich Angelinas Winken. Ähnlich wie ich hatte Alma Angst, in dieser Gesellschaft in nichts als schweren Gedanken zu versinken, und deshalb beschlossen wir, in der City-Mall, dem neu errichteten Einkaufszentrum der Stadt, durch die bunten Läden und Passagen zu wandern.
    Alma konnte sich nicht entscheiden, und noch im dritten Schuhgeschäft rannten zwei Verkäuferinnen um sie herum und schleppten immer wieder neue Paare aus dem Lagerraum im Untergeschoss herbei. Alma war umgeben von einem Durcheinander aus weißglänzenden Kartons, Einschlagpapier und bunten Schuhen. Ich hatte mich auf eine Couch gesetzt, sah dem Treiben zu und war froh, dass es so lange dauerte. Zwischendurch sah Alma zu mir her und lächelte mir zu; ich begriff, dass ihr Zögern und ihre Unentschlossenheit nur gespielt waren und sie den Vorgang bewusst in die Länge zog. Und plötzlich schoss mir durch den Kopf, dass ich von meinem Vater eigentlich gar nichts wusste.
    Es war ein Gedanke, der von einem Augenblick auf den anderen von meinem Hirn Besitz ergriffen hatte und alles beherrschte. Almas Gehversuche in einem neuen Schuhpaar nahm ich nur mehr schemenhaft im Hintergrund wahr, ebenso die Verkäuferin, die mir anbot, ein Getränk aus dem nahen Café zu holen. Ja, das war es. Ich wusste gar nichts. Ich wusste nichts von seiner Kindheit, nichts von seinen jugendlichen Ausgelassenheiten, nichts von seinen Liebschaften, glücklichen oder unglücklichen. Ich wusste nicht, mit wem er sich auf dem Schulhof geprügelt hatte, nichts davon, wer seine erste Liebe gewesen war, nichts davon, wie er und Mama sich näher gekommen waren. Wen hatte er gehasst, was hatte er gefürchtet, welche Wunden hatte er mitgenommen, welche waren verheilt? Gut, es gab ein paar Anekdoten aus seiner Kindheit, die er gerne erzählte, wenn sie Gäste eingeladen hatten. Aber je öfter er sie erzählte, desto unwirklicher wurden sie.
    Nein, außerhalb von dem, was ich selbst mit ihm erlebt hatte, wusste ich gar nichts. Ich saß hier mit meiner Tochter, mit dem Gefühl genau zu wissen, wie es ihr in diesem traurigen Moment ging, aber von meinem Vater wusste ich gar nichts. Und mit einem Mal wurde mir klar, dass ich ihn auch nach nichts mehr fragen konnte.
    Bestimmt würde mir Mama von ihm erzählen können, aber sie konnte schon nicht mehr unterscheiden, was wirklich passiert war und was ihr flattriges Gehirn dazuerfand. Außerdem war es bestenfalls eine Erzählung aus zweiter Hand, gefiltert durch Mamas Moral und ihre Weltsicht. Nein, mit Vaters Tod war nicht nur ein Mensch gestorben, auch all seine Vergangenheit, seine Erinnerungen und Erfahrungen waren damit verschwunden. Weggebrochen, ausgelöscht. Was blieb, waren einzig die eigenen Erinnerungen an ihn, aber das war ein schmales Heft, ein paar Seiten nur mit vagen Notizen – ein paar Eindrücke, sonst nichts. Nichts, was einem Leben, das beinahe achtzig Jahre gedauert hatte, Genüge tat.
    Wie hatte der Landeshauptmann in seiner Rede auf dem Friedhof gesagt? Sein Leben und Wirken wird unvergessen bleiben. Ja, war mir durch den Kopf geschossen, aber schließlich kann man nur das vergessen, was man auch weiß, doch es war mehr ein gedankliches Bonmot gewesen als eine Vorahnung auf das, was ich jetzt plötzlich empfand. Ich hatte mich vorgebeugt und zu Gregor geblickt, der weiter drüben stand, aber der war gerade mit seiner Sonnenbrille beschäftigt gewesen. Er hatte wohl kaum zugehört, trotzdem bemerkte er mich und schenkte mir einen abwesenden, fast aufmunternden Blick.
    Wie aus dem Nebel tauchte Alma vor mir auf, hüpfte auf und ab und fragte, was ich von diesem Paar halten würde. Sie trug rote, hochhackige Pumps, für die sie mit ihren fünfzehn Jahren bestimmt noch zu jung war.
    Nein, ich schüttelte den Kopf und mit einem Blick auf die Verkäuferinnen breitete ich bedauernd meine Arme aus.
    „Tut mir leid“, sagte Alma laut, und dann gingen wir. Wir verließen die Mall, wir verließen die Stadt, und auf der Rückfahrt erzählte ich ihr, was mir durch den Kopf gegangen war. Es gab Dinge, die man nie mehr zurechtbiegen konnte.

7
    Das Wasser, das in den Straßen der Stadt stand, verzog sich, und alles nahm wieder seinen gewohnten Lauf. Die Mauern der Häuser trockneten allmählich ab, die Umwandlung der Autos in Boote war (vorerst) gestoppt worden, und wenn ich von meinem Balkon über die Dächer des Viertels blickte, dachte ich an Mama, die sich hartnäckig weigerte, zum Arzt zu gehen. Schon vor einiger Zeit

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