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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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er hatte einfach alles ignoriert, was darauf hindeutete, dass sein Vater mit den Nazis mitmarschiert war.
    Erst als die Berliner Mauer fiel und im Fernsehen wochenlang von nichts anderem als dieser Stadt die Rede war, begann Vater eigenartige Bemerkungen zu machen, die vielleicht mehr waren als nur bloße Andeutungen. Während der Nachrichten drehte er sich plötzlich zu uns um und sagte Straßennamen auf, wie auswendig gelernt, und als Angelina nachfragte (es war an Mutters Geburtstag, auch Angelina und Gregor waren gekommen), behauptete er, er kenne Berlin wie seine Westentasche. Er nannte die Namen von Orten, wo er stationiert gewesen war, ja, stationiert, so nannte er es, Spandau-Ruhleben, sagte er, sprach von einer Alexanderkaserne und nannte den Namen eines Regiments, den ich vergessen habe. Es klang wie eine Meldung vor einem Ranghöheren beim Militär und ich hatte den Eindruck, dass Vater stolz darauf war, die ganze Abfolge von Namen und Bezeichnungen noch in Erinnerung zu haben.
    Mein Vater war dabei, die Tür zu einem Geheimnis einen Spalt weit zu öffnen, so weit begriff ich und das machte mich neugierig. Auch Angelina hatte aufgeschaut und ihre Illustrierte beiseitegelegt, nur Mama und Gregor wollten nichts davon wissen. Nichts von damals, nichts von Vaters Jugend und erst recht nichts von einer Zeit, über die man besser gar nicht redete. Sie bestanden darauf, dass wir auf die Fortsetzung des Spielfilmes umschalteten, die im anderen Programm bereits begonnen hatte.
    Vater verstummte, griff nach dem Wein, der vom Abendessen übrig geblieben war, und verkroch sich in seinem Arbeitszimmer. Mama erklärte uns ausführlich, was im ersten Teil des Spielfilmes passiert war, ich aber nahm mir vor, Vater irgendwann genauer auszufragen.
    Ich rechnete im Kopf nach, im Herbst 1944 war er achtzehn geworden und ich konnte mir vorstellen, dass er flugs eingezogen worden war. Vom Vater eines Kollegen wusste ich, dass er sich bereits mit siebzehn freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte. Aber mein Vater? In letzter Zeit hatte man einiges gehört über die Wehrmacht, auch als einer, der sich nur mäßig für Geschichte oder Politik interessierte, hatte man den Mutmaßungen über Gräueltaten der Wehrmacht kaum ausstellen können, schließlich wurde in jeder Talkshow und jedem Fernsehmagazin davon geredet und auf verschwommene Fotos gezoomt – und auch in Hinblick darauf hätte ich gerne gewusst, wo Vater in diesem Krieg gewesen war und was er angestellt hatte.
    Von Mutters Geburtstagsfeier war ich noch in der Nacht nach Hause zurückgefahren und während der Fahrt hatte ich mir vorzustellen versucht, wie mein Vater durch das untergehende Berlin des Zweiten Weltkrieges lief. In den Wochen darauf fielen mir manchmal noch einige der Straßennamen ein, die Vater heruntergebetet hatte, bald aber hatte ich die Geschichte wieder vergessen. Anderes war wichtiger geworden, hatte meine Aufmerksamkeit beansprucht, die Monate und Jahre waren dahingeflossen und plötzlich war Vater tot gewesen und ich konnte ihn gar nichts mehr fragen.
    Und jetzt hatte unsere verwirrte Mutter vielleicht gerade die Unterlagen in den Hausmüll geworfen, die uns etwas über Vater erzählen hätten können. Gregor schien das mehr durcheinanderzubringen als mich.
    „Hör mal, Johannes“, sagte er am Telefon. „Ich weiß doch, dass das alles vollkommen verrückt klingt, aber wir müssen diese Sachen wieder finden. Ich habe sonst keine Ruhe mehr. Ich weiß zwar nicht, wie ich das anstellen soll, aber ich werde alles versuchen. Und wenn du uns helfen kannst, dann hilf uns. Es liegt auch an dir, ob Mama wieder ruhig schlafen kann, von mir will ich jetzt gar nicht reden. Ich darf dich aber daran erinnern, dass Mutter hier lebt, in meiner Stadt, nicht in deiner.“
    Jetzt war er wieder ganz der Politiker, den ich kannte. Aber ich hatte beim besten Willen keine Ahnung, wie man Papiere, die vor Monaten schon in der Müllverbrennungsanlage verschwunden waren, wieder lebendig machen konnte.
    „Was meinte Mutter mit Geschichten, die sie mit Vater allein auszumachen hätte?“, fragte ich ihn.
    „Eifersucht“, sagte Gregor. „Es hat da jemanden gegeben. Nicht umsonst hat Mutter flugs alles weggeschmissen und will nichts mehr wissen.“
    „Und wieso weißt du davon?“, fragte ich.
    „Ich weiß es eben“, sagte Gregor.
    Manchmal war ich froh gewesen, dass ich auf dieser Seite des Gebirgspasses lebte, hundertzwanzig Kilometer und etliche Höhenmeter von

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