Berliner Zimmer - Roman
allem entfernt, was mit meiner Kindheit zu tun hatte. Der Pass war die Grenze, an der mein eigenes Leben begann. Jenseits des Passes war Vaterland und Mutterland, und früher, wenn ich von Besuchen zurückkehrte und die Passstraße hinauffuhr, hatte ich manchmal abgezählt, wie ich mich Meter für Meter von diesem Land entfernte. Einem Land, in dem ein Maß galt, das jemand anders geeicht hatte. Das Elternmaß, das Brudermaß, ich verstand es nicht genau, aber ich spürte die Leichtigkeit, wenn ich die letzte Kehre ausfuhr, über den Pass rollte und mein Wagen dann hinunterschoss in den Talboden, wo die Stadt lag, die mir gehörte. Hundertzwanzig Kilometer weit weg von meinem Elternhaus, das war die Entfernung, die ich mir ausgesucht hatte, um mein eigenes Leben zu leben. Ich war nach dem Studium einfach in der Stadt geblieben, in der ich die Universität besucht hatte und wo ich Astrid, Almas Mutter, kennengelernt hatte, und war nicht mehr in meine Vaterstadt zurückgekehrt.
Manchmal, wenn ich vom obligaten Besuch bei den Eltern wieder in die Gegend zurückfuhr, die mir allmählich zur Heimat geworden war, hielt ich auf der Passhöhe an, setzte mich auf die Terrasse des Gasthofes und blickte zurück auf die Strecke, die ich hinter mir gelassen hatte. Im Winter war die Straße oft wochenlang gesperrt, bis die Räumfahrzeuge den Schnee beiseitegeschafft hatten. Ein Pionierwerk, nannte man die Passstraße manchmal in Touristenführern und meinte damit wohl die aufwändigen Aufbauten vor schwindelnden Abgründen, die nötig gewesen waren, um die vielen Kehren ins steil abfallende Gelände zu ziehen.
Ich genoss es, auf der Terrasse meinen Kaffee zu trinken und den Autos zuzusehen, die sich die Straße heraufquälten, über die achtzehn Kehren und die steilen Anstiege dazwischen. Ich saß auf dem Scheitelpunkt und glaubte entscheiden zu können, zu welchem Land ich gehörte. Es gab ein Diesseits und ein Jenseits, und der Gedanke, ich könnte frei entscheiden, gab mir ein Gefühl von Unbeschwertheit.
Ich hatte immer an diese Entscheidungsmöglichkeit geglaubt, jetzt aber saß ich wieder auf diesem Scheitelpunkt und die Grenze hatte keine Bedeutung mehr. Schon mit der Erkrankung meines Vaters hatte die Mauer zwischen den Welten zu bröckeln begonnen, ich hatte gemerkt, dass man die andere Seite, die der Eltern und damit die der eigenen Kindheit, nicht so einfach hinter sich lassen konnte. Und seit diese Sache mit Gregor passiert war, hatte ich den Eindruck, dass man sich grundsätzlich nicht allzusehr in Sicherheit wiegen durfte. Von einem Tag auf den anderen konnte sich vieles auflösen, was bisher klar und fest war, Grenzen, Entfernungen, Glaubenssätze, Gewissheiten.
Nach Gregors Anruf lag ich lange wach, und in den Morgenstunden, als es schien, als könnte ich doch noch etwas Schlaf finden, klingelte mein Mobiltelefon. Es war Angelina.
„Erschrick nicht“, sagte sie, „aber wir müssen etwas tun.“
„Wir“, sagte ich, „was sollen wir tun.“
„Es ist wegen Gregor.“
„Was soll mit ihm sein?“
„Er wird langsam verrückt“, sagte Angelina. „Das Ding mit eurem Vater wirft ihn aus der Bahn.“
„Die Papiere“, sagte ich, Angelina aber verstand mich nicht, und im Wohnzimmer nebenan drehte Alma das Radio auf, um voller Musik in den Tag zu kommen.
„Er geht nicht mehr aus dem Haus“, hörte ich Angelina sagen, während ich an die Wand klopfte, um Alma dazu zu bringen, die Musik leiser zu stellen.
„Er verkriecht sich in seinem Zimmer, und wenn er doch das Haus verlässt, dann nur um sich bei eurer Mutter zu verstecken“, sagte Angelina. „Seine Parteikollegen rufen jetzt mich an, auf meinem Mobiltelefon, und fragen, ob er krank sei. Und wenn ich ihn dann frage, was mit ihm los ist, schreit er mich an, ich solle ihn in Ruhe lassen.“
„Das tut mir leid“, sagte ich.
Angelina schwieg. Und dann rückte sie damit heraus, dass sie Gregor heute Morgen nicht in seinem Bett gefunden habe und er auch nicht an sein Telefon gehe.
„Er ist wieder bei Muttern“, sagte ich und erzählte ihr, dass mich beide mitten in der Nacht angerufen hätten.
„Verrückt“, sagte Angelina.
„Er kriecht zurück in den Uterus“, sagte ich. „Dort ist er vor allem sicher. Und vielleicht findet er dort, was er sucht.“
„Mir ist nicht nach Scherzen“, entgegnete Angelina.
„Er wird sich schon wieder beruhigen“, sagte ich. „Zumindest redet er nicht mehr von seinen Halluzinationen.“
„Du hast
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