Berliner Zimmer - Roman
hatte ich zusammen mit Angelina nach einem Vorwand gesucht, sie zu einer Untersuchung ins Krankenhaus zu locken, aber es war uns nichts Unverfängliches eingefallen, nichts, was nicht Mamas Verdacht erregt hätte.
Zwischendurch fiel mir Gregor ein, aber ich hatte nichts mehr von ihm gehört. Auch nicht von Angelina. Nur einmal in den Abendnachrichten war sein Name gefallen, als es darum ging, wer für die Nachfolge des zurückgetretenen Bürgermeisters in Frage kam. Seine Geschichte über Vaters Auferstehung war wohl nichts als eine Überhitzung seiner Einbildungskraft gewesen, aus dem Stress entstanden, dem Politiker nun einmal ausgesetzt sind. Vielleicht war es auch eine Folge seines schlechten Gewissens, sich nie um Vater gekümmert zu haben (das bildete ich mir ein), und nach zwei Tagen schon hatte sich alles wieder eingerenkt. Ich hätte es wissen können.
Wenn am Morgen das Telefon klingelte, dann war es das Sekretariat der Schule, das mir zusätzliche Stunden aufbrummte, weil sich Kollegen im letzten Augenblick krank gemeldet hatten. Oder um mir zu sagen, dass mein Ansuchen, am internationalen Jahreskongress für Schülerleistungen teilzunehmen, endlich genehmigt worden war. Dann schlenderte ich zum Bus, der mich an den Stadtrand brachte, wohin man die meisten Schulen des Gebiets verbannt hatte, und freute mich, bald von hier wegzukommen. Ich würde Alma zu ihrer Mutter aufs Land bringen, mich ins Auto setzen und all die Geschichten, die sich hier abspielten, endlich hinter mir lassen.
In dieser Stimmung ging der Frühling langsam zu Ende, an den Abenden saß ich über den letzten Arbeiten vor Schulschluss und wenn Alma sich in ihr Zimmer verzogen hatte, setzte ich mich vor den Fernseher, zappte durch die Programme und wartete darauf, dass ich müde wurde.
Gregors Anruf riss mich aus der Routine meines Einschlafrituals. Es war schon spät, und ich tappte durch die finstere Diele zum Telefon.
„Ich wollte mich noch einmal melden“, sagte Gregor. Seine Stimme klang gedrückt und unsicher. Wie von einem, der über Nacht auf schwankenden Boden getreten ist und plötzlich ahnt, dass es nicht allein an ihm liegt, ob er seinen Weg fortsetzen kann.
„Hörst du mich?“, fragte Gregor.
„Klar und deutlich“, antwortete ich, und ich nahm mir vor ihm zu sagen, dass ich ihn gut verstehen könne. Denn ich glaubte dieses Gefühl durchaus zu kennen, diese zunehmende Verunsicherung, die sich in einem ausbreitete, wenn man plötzlich keine Antworten mehr hatte. Nur bei meinem Bruder war mir das immer fremd gewesen und ich wartete darauf, dass sein Stottern verflog und der alte Gregor wieder auftauchte.
Als ich ihn fragte, wo er sei, erzählte er stockend, dass er zu Mutter gefahren sei, weil es ihm seit Tagen keine Ruhe gelassen habe, dass Angelina und ich nichts unternommen hätten, um Mama in dieser Situation beizustehen.
„Ach, nein“, sagte ich.
Es gehe Mutter wirklich nicht gut, erklärte Gregor, sie klammere sich so an ihn, und deshalb habe er ihr versprechen müssen, zumindest bis zum nächsten Morgen bei ihr zu bleiben.
„Sie macht sich Sorgen um dich “, sagte ich.
Aber Gregor wollte davon nichts wissen. Er erzählte mir, dass es ihm gelungen sei, Mama zu beruhigen und schließlich ins Bett zu bringen.
„Und du?“, fragte ich.
Er selbst habe natürlich keine Ruhe gefunden, sagte Gregor. Es gebe ja so viel zu tun. Und deshalb sei er in Vaters Arbeitszimmer zurückgegangen, wo alles noch so geblieben sei wie damals. Sogar die Bleistifte auf dem Schreibtisch würden noch so liegen, wie sie Vater zurückgelassen habe.
„Und“, sagte ich, „war er auch da?“
Gregor stockte einen Augenblick, dann entgegnete er, dass man von mir nichts anderes erwarten könne als sarkastische Untergriffe. Ihn jedoch lasse Vaters Erbe nicht kalt. Er habe bereits damit angefangen, seine Papiere zu ordnen. Ob mir denn Vaters Nachlass gar nichts bedeute.
„Es lebe die Vergangenheit“, sagte ich und setzte mich in meinem Bett auf, „was hat er denn nachgelassen?“
„Auch wenn es dich nicht interessiert“, sagte Gregor, „aber wir haben zehn Kisten voller Ordner sortiert. Mit seinen Reden im Stadtrat, mit den Gesetzesentwürfen, mit wichtigen Papieren, auf denen seine Unterschrift steht. Und dann der gesamte Briefverkehr und all die persönlichen Unterlagen.“
„Und was willst du damit“, fragte ich, „willst du seine Memoiren veröffentlichen?“
„Diesen alten Krempel“, hörte ich plötzlich Mamas
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