Berliner Zimmer - Roman
doch diesen Kongress in Berlin“, sagte Angelina unsicher.
„Ja“, erwiderte ich, „übermorgen fahr ich los.“
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Eine Autobahnbaustelle reihte sich an die andere, Stoßstange an Stoßstange tauchte ich in die süddeutsche Hügellandschaft ein. Als ich die Anhöhe des Irschenbergs passiert hatte, weitete sich der Blick, die Staus lösten sich plötzlich auf und ich freute mich auf die Ebene. Das erste Mal in Berlin war ich, als es noch Westberlin geheißen hatte und voller Rentner war und junger Arbeitsloser, welche sich hier dem Militärdienst entzogen hatten. Ich hatte mit Astrid fahren wollen, in die ich verliebt war, aber diese hatte zwei Tage vorher gemeint, dass ihr Berlin doch zu deutsch sei, und deshalb hatten sich Gregor, der damals noch Betriebswirtschaft studierte, und Angelina meiner erbarmt und waren mitgekommen. Astrid war mit Freunden nach Rimini gefahren oder nach Kalabrien oder vielleicht auch in die Gegend der Cinque Terre.
Die Autobahn floss unter meinem Wagen dahin und als ich am Kreuz München-Nord auf die A9 auffuhr, fiel mir auch wieder ein, dass Angelina und Gregor in der Pension das Zimmer neben dem meinen bekommen hatten und ich, ohne es zu wollen, durch die verschlossene Durchgangstür ihre Versuche, miteinander zu schlafen, mitbekommen hatte. Einmal hatte ich Angelina wutentbrannt aufschreien hören, oder vielleicht war es auch voller Lust gewesen, und ich hatte mit dem Gedanken gespielt, wie es wäre, an Gregors Stelle zu sein.
Ich beschloss, über Regensburg zu fahren, der Karte nach war diese Strecke zwar eng und kurvenreich, aber die großen Verkehrsströme würden wohl weiter westlich vorbeiziehen. Am Abend wollte ich in Berlin sein.
Seit fünf Jahren fand der Kongress zu den Vergleichsstudien von Schülerleistungen statt, zu dem ich als Delegierter unserer Schule fahren durfte, abwechselnd in Wien, Zürich und Berlin. In diesem Jahr war wieder Berlin dran. Unsere Schule war die einzige der Region, die an dieser Studie teilnahm, und meine Zuständigkeit verdankte ich einzig dem Umstand, dass alle Kollegen, die dafür in Frage kamen, ihren Urlaubsanspruch vor mir geltend machen konnten. Mit anderen Worten, ich war der Jüngste, und der Direktor der Schule meinte, dass ich froh sein solle, einen Großstadtaufenthalt auf Kosten der Schule genießen zu dürfen.
Ich war drei Tage vor Kongressbeginn losgefahren, fast erleichtert hatte ich meine zwei Reisetaschen in den Kofferraum gepackt, weil ich das Gefühl hatte, auf diese Weise der Geschichte, in die sich Gregor und Mama hineingesteigert hatten, entfliehen zu können. Und gleichzeitig war mir bewusst, dass ich in jene Stadt fuhr, in der sich mein Vater vor über sechzig Jahren aufgehalten hatte. Vielleicht fand ich sogar einen der Orte wieder, fiel mir ein, die er in seinem plötzlichen Erinnerungsfuror aufgesagt hatte und über die niemand mit ihm hatte reden wollen. Jetzt, wo ich daran dachte, hatte ich das Gefühl, ihm näher zu sein und auch etwas gutzumachen (ich hatte kein anderes Wort dafür), wenn ich durch die Straßen ging, deren Namen er genannt hatte, und das erfüllte mich mit plötzlicher Neugier auf diese Stadt, von der ich geglaubt hatte, sie bereits zu kennen.
Und wer weiß, vielleicht hatte es dieses Mädchen in Vaters Berliner Zeit wirklich gegeben, von dem Gregor offenbar in Vaters Unterlagen, die Mutter noch nicht vernichten hatte können, eine Spur entdeckt hatte. Und wenn sie noch lebte, noch in dieser Stadt lebte?, fiel mir plötzlich ein. Wenn sie im selben Jahr geboren war wie Vater, dann wäre sie jetzt noch keine achtzig. Die Chance, dass sie noch lebte, war gut. Und wenn ich sie suchte und auch fand, dachte ich, und sie nicht dement war wie Mama, könnte sie mir vielleicht sogar etwas erzählen von damals. Und mir Vater auf diese Weise auferstehen lassen, als jungen Mann, der um mehr als dreißig Jahre jünger war als ich im Augenblick, wo ich durch diese deutsche Mittelgebirgslandschaft gondelte, die mir mit einem Mal endlos weit erschien.
Es war ein eigenartiger Gedanke, der sich in meinem Hirn breitmachte – die Möglichkeit, einem jungen Mann zu begegnen, einem Heranwachsenden samt all seinen Ideen, Auffassungen und Wünschen. Diesen beschränkten und zugleich maßlosen Lebensvorstellungen, wie sie jeder Zwanzigjährige auf ganz selbstverständliche Weise hat und wie ich sie auch von mir selbst oder Gregor zur Genüge kannte – und dieser junge Mann sollte später mein Vater werden. Mein
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