Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
Vom Netzwerk:
allwissender, mein erfahrungssatter Vater (ich hatte ihn nie anders kennengelernt), der einem stets weit voraus war und alles besser wusste. Ich hatte keinerlei Vorstellung, wie er auf mich wirken würde, und es gelang mir auch schwer, mir eine leibhaftige Person vorzustellen – die wenigen Jugendfotos meines Vaters, die ich in Erinnerung hatte, ließen sich nicht mit dieser Imagination in Einklang bringen.
    Und doch hatte ich das vage Gefühl, jene Leerstelle, jene Lücke, die in meiner Vatergeschichte klaffte, so zumindest teilweise schließen zu können. Es war fast so, als hoffte ich, damit ein Versagen wiedergutzumachen. Ja, ich würde versuchen, diese Frau zu finden, sagte ich mir, und drückte das Gaspedal durch, um mich zwischen den großzylindrigen deutschen Wagen auf der Überholspur einzureihen.
    Am Eingang einer Raststätte drückte mir ein Mädchen eine bunte Werbebroschüre in die Hand, in der für die Vorpommersche Ostseeküste und die Insel Rügen geworben wurde. In der Warteschlange vor der Kaffeetheke noch blätterte ich den Prospekt durch, der voller Seevögel, Strandkörbe, Kreidefelsen und Ansichten menschenleerer Strände war. Auf der vorletzten Seite fand ich ein Haus im Südwesten der Insel, fernab von den Badestränden und Promeniermeilen der bekannten Seebäder. Die Pension nannte sich „Kiebitzort“, der dazugehörige Text versprach dort Ruhe, Natur und entspannte Abgeschiedenheit. Warum nicht ein Zweibettzimmer im Obergeschoss nehmen, mit einem Fenster unterm Dach, sagte ich mir, und nichts tun als auf seinem Zimmer zu bleiben. Auf dem Foto erkannte man nicht, ob das Haus ein Reetdach (das hieß doch so?) besaß, wie es im deutschen Norden noch öfters vorkam. Einfach auf dem Zimmer bleiben, höchstens in den Speisesaal, wenn ich Hunger hatte, und sonst nichts. Einmal wäre ich vielleicht nach Hiddensee gefahren, von der Anlegestelle zum Gerhart-Hauptmann-Haus gewandert, dessen Beschreibung im Prospekt eine halbe Seite füllte, ja, das könnte mein Urlaub sein, meine Sommerfrische.
    Niemand würde überprüfen, ob ich an dem Schulkongress in Berlin wirklich teilgenommen hatte. Und vielleicht würde Alma nachkommen, mit dem Zug bis Greifswald oder Stralsund, wo ich sie mit dem Wagen abholen konnte. Auch wenn sie mit Ruhe und Abgeschiedenheit nichts anzufangen wusste, ich hätte ihr versprochen, später gemeinsam mit ihr nach Norden zu gondeln. Kopenhagen hätte sie bestimmt interessiert, oder Stockholm. Ich hatte Alma wie bei all meinen bisherigen Kongressteilnahmen oder längeren Reisen zu Astrid, ihrer Mutter, gebracht, welche nach unserer Trennung aufs Land gezogen war, sehr zum Missfallen Almas, und wieder geheiratet hatte. Ich könnte sie anrufen, dachte ich, natürlich müsste ich Astrid überreden, Alma allein mit dem Zug reisen zu lassen. Es würde wohl nicht einfach werden.
    Auf der Rückfahrt von Astrids neuem Wohnort hinter den sieben Bergen, so hatte es Alma genannt, war ich am städtischen Krankenhaus vorbeigekommen, in dem Vater gestorben war. Aus Unachtsamkeit war ich auf der Umgehungsstraße falsch abgebogen, einem blauen Schild gefolgt, auf dem Exit stand, und plötzlich befand ich mich an der Kreuzung, wo es zum Parkhaus des Spitals ging. Ich fuhr einfach geradeaus weiter und stellte mein Auto ins Parterre der Tiefgarage, wie ich es immer gemacht hatte, wenn ich Vater zur Therapie brachte oder abholte.
    Ich kannte den Weg zur Radiologie, es war fast, als ob ich Vater noch einmal besuchte. Als ich aus dem Aufzug stieg, zögerte ich. Was wollte ich eigentlich hier? Gleichzeitig kam mir der Gedanke, was passieren würde, wenn Vater wirklich noch hier wäre, wenn er hinten im Gang auf mich warten würde, mit zerzausten Haaren, seine blaue Reisetasche neben sich auf dem Boden. Diese Vorstellung erfüllte mich mit einem eigenartigen Glücksgefühl, das für eine Sekunde in mir aufbrandete und gleich wieder verebbte.
    Am Eingang der Station fragte ich nach Schwester Irina, die einzige, an deren Namen ich mich noch erinnerte. Sie hatte Vater meist in Empfang genommen und er hatte von ihrer Herzlichkeit, die sie seiner Meinung nach nur ihm allein gewährte, geschwärmt.
    Wir setzten uns in die Cafeteria im ersten Stock, in eine Fensternische, von wo aus man den Helikopterlandeplatz des Krankenhauses einsehen konnte. Gerade war einer der orangen Rettungshubschrauber gelandet, die Rotoren ließen die Kittel und Haare der Sanitäter hochflattern, welche darauf warteten, dass sie

Weitere Kostenlose Bücher