Berliner Zimmer - Roman
sich dem Gefährt nähern konnten.
„Er war so ein freundlicher Mann, Ihr Vater“, sagte Schwester Irina.
„Ach“, sagte ich.
„Und so gefasst“, fuhr die Schwester fort, „wie er wirkte. Wie jemand, der sich mit seinem Schicksal ausgesöhnt hat.“
„Bestimmt nicht“, sagte ich, „er hat nur nicht gewusst, worauf er sich mit dieser Krankheit einlässt.“
Auf dem Landeplatz übernahmen die Sanitäter die Trage, die aus dem Helikopter geschoben wurde. Ein Autounfall vielleicht, oder ein Bergunfall. Die Übernahme sah aus wie perfekt eingeübt, alles ging blitzschnell und im Nu war die Truppe im Eingang verschwunden und die Rotoren drehten sich schon für das nächste Abheben.
„Ich war da, ich hatte Dienst in jener Nacht“, sagte Schwester Irina, während wir beide dem Helikopter nachsahen, der sich im Fenster nach oben schraubte. Man hörte das knatternde Klopfen, mit dem die Rotoren die Luft zerschnitten, bis ins Gebäude herein, und Irina wiederholte noch einmal, was sie eben gesagt hatte.
Sie behauptete, sich noch gut an den Tag zu erinnern, an dem mein Vater gestorben war, obwohl er ein halbes Jahr zurücklag. Sie hätten so viel zu tun gehabt an diesem Abend. Die Stationsablöse hätte sich hinausgezögert, und Vater hätte darauf gedrängt, dass sie noch einmal in sein Krankenzimmer komme, weil er ihr unbedingt etwas erzählen wolle. Sie habe ihm versprochen, dass sie später noch vorbeikomme, wenn sie alle Patienten versorgt hätte.
„Aber dann habe ich es vergessen“, sagte Schwester Irina mit ihrem osteuropäischen Akzent und sah mich an. Ihre wasserblauen Augen glitzerten im Licht, das durch das Fenster in die Cafeteria fiel.
„Er war also mutterseelenallein“, sagte ich.
Irina nickte. Plötzlich war es still im Café. Ich merkte, dass wir allein waren. Die Besucher waren nach Hause gegangen, die Patienten in ihre Zimmer zurückgebracht worden und die Bedienung hatte die Hintergrundmusik abgedreht. Irina riss zwei Zuckersäckchen auf und schüttete den Inhalt mit einer einzigen Handbewegung in ihre Tasse. Die Heftigkeit, mit der sie ihr Getränk umrührte und den Löffel gegen den dünnen Emailrand schlug, riss mich aus meinen Gedanken. Niemand hatte Vaters letzten Atemzug wahrgenommen, niemand hatte ihm helfen, ihm beistehen können. Erst am frühen Morgen, als er bereits gestorben war, war jemand in sein stilles Zimmer gekommen.
Schwester Irina zuckte mit ihren Schultern. Was hatte ich denn erwartet? Eine Absolution? Wir schauten aus dem Fenster, ich wartete darauf, dass der nächste Rettungshelikopter landete. Aber es war nichts zu sehen und nichts zu hören. Ich fragte mich, ob auch Irina in diesem Augenblick darüber nachdachte, wie sie wohl sterben würde. Aber mit fünfundzwanzig oder achtundzwanzig denkt man nicht an den eigenen Tod.
„Und dann?“, fragte ich.
„Wir haben ihn fertig gemacht und nach unten gebracht. In den Aufbahrungsraum im Tiefparterre.“
„Fertig gemacht?“
„Für die Reise. Oder wie sagt man hier?“
Als wir die Cafeteria verließen, war es dunkel geworden. Wir gingen durch den endlosen Krankenhausflur gemeinsam auf die Rolltreppe beim Ausgang zu, Schwester Irina und ich. Wir schwiegen, als wäre nun alles gesagt, was gesagt sein musste. In meinem Kopf hämmerte der Gedanke, dass Vater in den letzten Augenblicken seines Lebens allein gewesen war. Niemand war da gewesen, ihm beizustehen, wie man sagte, und niemand konnte darüber erzählen. Für mich gab es das Geschehen seines Sterbens nicht. Vater war nicht gestorben, er war nur auf einmal tot, und vielleicht konnte ich das nicht ertragen. Vielleicht war es die Suche nach einem Bild seines Sterbens gewesen, die mich hierhergeführt hatte, aber auch Irina musste passen. Sie hatte vergessen, noch einmal nach ihm zu sehen. Also musste ich mit meinen Mutmaßungen über dieses Sterben zurechtkommen, und das waren Bilder, die ich aus Spielfilmen kannte oder dem Fernsehen.
Ich blickte zu Irina, die neben mir dahinging, und ich war mir sicher, dass auch sie an Vater dachte, und es hätte mich gar nicht gewundert, wenn seine kleine Figur plötzlich aufgetaucht und er zwischen uns dahingetrippelt wäre. Fehlte nur, dachte ich mir, dass er mir verschwörerisch zublinzelte und mir ins Ohr flüsterte, er habe sich ein bisschen in Schwester Irina verguckt.
„Du bist doch viel zu alt für sie“, murmelte ich halblaut und erschrak. Aber niemand hatte mein Selbstgespräch gehört, auch Irina nicht. Sie
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