Berliner Zimmer - Roman
Stadt. Ich legte mich auf das Bett und hörte zu, wie Gregor stotterte.
„Wieso sagst du nichts?“
„Ich hör dir zu, Gregor. Ich versuche zu verstehen, was du mir sagen willst.“
„Okay, dann hör mir zu. Verstehst du, es muss wohl die ganze Belastung gewesen sein, der Rücktritt des Bürgermeisters, das Chaos in der Stadtverwaltung, und dass Vater sich zum Sterben gerade diese Zeit ausgesucht hat, hat es ja nicht einfacher gemacht. Ich bin ja auch nur ein Mensch. (Du bist auch nur ein Mensch.) Eine Form von Überreiztheit, ausgelöst durch die Belastung, so muss man das wohl verstehen. Und Angelina war mir in dieser Zeit auch nicht immer eine Stütze. (Pause) Kurz und gut: Ich denke, du hast recht gehabt letzte Woche. Es waren wirklich Hirngespinste, so wie du sagtest. Das ist mir plötzlich klar geworden.“
„Ich bin in Berlin, Gregor. Auf einem internationalen Kongress über Schülerleistungen.“
„Schon gut, aber wir müssen jetzt unbedingt danach trachten, Mama zu beruhigen. Das ist das Wichtigste. Du weißt ja, wie sie sich alles zu Herzen nimmt. Und bei ihrem Zustand. Ich hätte nie in Vaters Unterlagen wühlen sollen. Sie redet nur mehr von dieser Frau, von der ich nichts weiß außer ihren Namen aus Vaters altem Adressbuch.
„Und was habe ich damit zu tun, Bruderherz?“
„Du solltest Mama gleich anrufen, Johannes. Oder noch besser, du fährst zu ihr hin. Denk dir was aus. Am besten, du sagst ihr, dass wir uns alle getäuscht haben. Wir müssen die Toten ruhen lassen.“
„Hörst du mir überhaupt zu, Gregor? Ich bin in Berlin“, wiederholte ich.
„Dir fällt schon was ein, Bruderherz“, sagte Gregor und unterbrach unser Gespräch.
An der Rezeption verlangte ich nach dem Berliner Telefonbuch. Ich setzte mich in eine Ecke des Foyers, wo drei schwarze Ledersessel zu einer Sitzgruppe zusammengestellt waren, und legte die beiden dicken Bände auf das Glastischchen. Neben der Sitzgruppe hing ein Zigarettenautomat an der Wand und ich überlegte, ob ich mir eine Packung ziehen sollte. Dann nahm ich doch einen der beiden Bände in die Hand und blätterte durch. Die Zigaretten schienen mir hier viel teurer als anderswo, auch hatte ich bisher nur dann geraucht, wenn mir Angelina oder ein Kollege in der Schule eine angeboten hatte. Trotzdem suchte ich in meiner Jacke nach dem nötigen Kleingeld, aber ich fand nichts als ein paar Centstücke. Später, dachte ich, könnte ich mir an der Rezeption einen Zehn-Euro-Schein wechseln lassen.
In dem einen Band des Telefonbuchs blätterte ich durch den Buchstaben S, tatsächlich lebten in dieser Stadt einige Personen meines Namens. Dann brachte mir der Kellner den Kaffee, den ich bestellt hatte. Unter H stieß ich schließlich auf den Namen, den ich mir nach dem Gespräch mit Gregor aufgeschrieben hatte. Es gab eine ganze Reihe von Hubmanns in Berlin, aber nur hinter einem stand der Vorname Klara.
Ich notierte mir die Adresse, die bei dem Namen stand, und breitete meinen Stadtplan auf dem Tischchen aus, um die Schönhauser Allee zu suchen. Ein russischer Pensionsgast, der seine Koffer neben der Sitzgruppe abstellte, fragte mich, ob ich Hilfe bräuchte, und schließlich fanden wir gemeinsam die Straße, die sich vom Zentrum der Karte weit hinauszog. Der ehemalige Ostteil der Stadt, klärte mich der hilfreiche Russe auf und erzählte mir, dass er aus Nowosibirsk stamme. Die Schönhauser Allee war nicht allzu weit von meiner Pension entfernt, drei, vier Stationen mit der U-Bahn oder der Straßenbahn vielleicht.
Aber es war doch sehr unwahrscheinlich, dass diese Frau Hubmann, die ich so einfach im Telefonbuch gefunden hatte, dieselbe war, die etwas mit Vater zu tun hatte. Zu tun gehabt hatte vor so vielen Jahren. Es war wohl zu einfach. Menschen ziehen fort, heiraten, ändern ihre Namen, sterben. Nein, nein. Es war schon nicht leicht, sich Vater als jungen Mann vorzustellen, und noch schwerer fiel es mir, daran zu glauben, dass es jemand in einer fremden Stadt gab, der ihn gekannt hatte. Und wenn doch, würde sich diese Person an ihn erinnern? Und wenn sie sich an ihn erinnerte, wer war er dann? In welcher Gestalt würde mir mein Vater hier entgegentreten?
Ich könnte einfach anrufen und mir Gewissheit verschaffen, das Mobiltelefon hatte ich neben die Telefonbücher gelegt, schon hatte ich es in meiner Hand. Aber zuerst wollte ich meine Gedanken ordnen und abwägen, wie ich am besten vorgehen sollte, und ich verschob den Anruf auf später. Ich faltete
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