Berliner Zimmer - Roman
Haaransatz. Und auch die Statur. Nur, dass Sie viel größer sind.“
Ich saß da, in dieser kleinen Küche in der Schönhauser Allee, und draußen knallte der Sommer auf die Straßen und Plätze. Er war so plötzlich explodiert, von einem Tag auf den anderen. Mein Hirn aber war mit einem Male ein unstrukturiertes, schleimiges Schneckenorgan, so langsam, wie es arbeitete.
Ja, sie habe ihn gekannt, beteuerte Frau Hubmann, sie wiederholte sich, weil sie sah, dass ich Mühe hatte zu verstehen. Sie sei ihm damals begegnet, hier in der Stadt vor so vielen Jahren, sagte sie, während sie Kaffee aufsetzte, sie hatte sich vorbereitet auf meinen Besuch, hatte Kuchen besorgt und frisches Obst. Und die Tassen hinterließen dunkle Ringe auf dem Tisch, die langsam trockneten, und Frau Hubmann kam ins Erzählen, ich saß ihr gegenüber und schaute auf ihren Mund, auf ihre Hände. Ich pickte mit meinen Fingerspitzen die Kuchenbrösel auf, die auf dem Tisch lagen, und Frau Hubmann redete und schweifte weit ab in ihren Erzählungen, wie Menschen es manchmal tun, die lange darauf gewartet haben, dass ihnen jemand zuhört.
Sie war ein Mädchen in dieser Geschichte, das mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester aus Thüringen in die Nähe Berlins gezogen war, sie war ein Mädchen mit blonden Zöpfen, wie ich sie von Fotos in den Geschichtebüchern meiner Schüler kannte. Ihr Vater wurde vom Fabrikarbeiter zum begeisterten Unteroffizier in Hitlers Wehrmacht, manchmal umging er die Feldpost und schickte Briefe von überallher mit wunderbaren fremdländischen Briefmarken, die sie und ihre Schwester am Abend von den Umschlägen lösten und lange betrachteten. Als die Briefe aufhörten, war Klara siebzehn geworden und erwachsen und zog ins Zentrum von Berlin, wo sie zusammen mit ihrer Schwester eine Wohnung mietete. Sie begann als Zahnarzthelferin zu arbeiten und an den Wochenenden für die Soldaten zu sammeln, denen es besser gehen sollte als ihrem Vater, sie zog mit den anderen Mädeln von Haus zu Haus. Ihre Mutter blieb in ihrem Dorf zurück, als trauernde Witwe, als vorbildhafte Soldatenfrau.
„Und mein Vater?“, fragte ich, der ich nicht warten konnte, bis alles der Reihe nach erzählt war.
Zuerst aber kamen die nächtlichen Verdunkelungsgebote, die feindlichen Flugzeuggeschwader, das unsägliche Brummen in der Luft, die Angst, die in den Gedärmen sitzt und in den Kniegelenken sitzt und in allen Gliedern. Die zerstörten Straßenzüge, die man am Tag danach auf dem Weg zur Arbeit durchquerte. Oder nur die zerborstenen Fensterscheiben in der Wohnung, wenn man Glück hatte.
„Wir hatten uns den Krieg ins Haus geholt, mitten in unser Wohnzimmer“, sagte Frau Hubmann und wie sie es sagte, schien es, als wäre es erst gestern gewesen.
„Und Vater“, sage ich.
„Er war in diesem Luftschutzkeller“, sagt Frau Hubmann, „im selben Luftschutzkeller, in den ich mich geflüchtet hatte in dieser Nacht. Ich hatte ihn zuerst gar nicht bemerkt, aber irgendwann saß er da in seiner Uniform, den Kopf zwischen den Händen. Wir hatten alle dieselbe Angst. Und als ich ihn irgendwann fragte, zwischen zwei Angriffen, ob er schon Abendbrot gegessen habe, hat er mich nur verständnislos angegrinst. Er hat das Wort Abendbrot nicht verstanden, da wusste ich, dass er von weit her kam.“
„Aus dem Süden Tirols“, sage ich.
„Er sprach einen unverständlichen Dialekt, das war gar kein richtiges Deutsch“, setzt Frau Hubmann hinzu.
Ich will schon widersprechen, dass das eine Frage der Perspektive sei, da läutet es an der Tür. Vielleicht ist es Frau Hubmanns Nichte, die sie abholt für den täglichen Spaziergang, im Mauerpark oder durch die Kastanienallee. Aber nein, es ist nicht die Nichte, die denselben Namen trägt, noch nicht, es ist einer, der meinen Namen trägt. Er steht plötzlich im Rahmen der Küchentür, schweißnass, blass, tattrig, muss sich irgendwo festhalten, an der nächstbesten Stuhllehne oder an der Anrichte, mit beiden Händen. Sein Haar hängt ihm ins Gesicht und er zittert am ganzen Körper. Ich kenne ihn nicht, so nicht.
„Erwin“, sagt Frau Hubmann. Schon ist sie bei ihm und bugsiert ihn auf das Sofa, wo er sich hinlegen soll, bis es besser geht. Sie stützt ihn, hilft ihm seine Jacke ausziehen. Es ist nicht das erste Mal, aber so schlimm war es noch nie.
„Vater“, sage ich, „aber du bist doch …“
Aber das nützt erst recht nichts in dieser Situation, es wird nicht besser, der Atem des Alten will
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