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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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mit einem Nicken, so selbstverständlich, als wären wir tatsächlich irgendwo in Österreich. Unsicher geworden, werfe ich einen Blick nach draußen, durch eines der hohen Fenster. Vater dreht seinen Kopf, folgt meinem Blick und lacht.
    „Immer noch Berlin“, sagt er und lacht leise in sich hinein. Und dann bemerkt er meinen unsicheren Blick.
    „Die Luft“, sagt er, „das weiß doch jedes Kind. In Wien ist die Luft weicher, morbider. Man kann das richtig spüren. Aber man riecht es auch. Du musst nur deine Nase benutzen.“
    „Vater“, sage ich.
    „Das war einmal“, antwortet er.
    „Was meinst du damit?“
    „Entlass mich, gib mir mein Eigenleben. Ich kann nicht ewig dein Vater sein. Schließlich war ich es dreiundfünfzig Jahre lang.“
    „Vierundfünfzig“, sage ich und wundere mich. Von Gespenstern hätte ich erwartet, dass sie die einfachen Rechenarten beherrschen.
    Der Kellner bringt Vaters Einspänner und mein Mineralwasser. Ich frage ihn nach der Rechnung, will gleich zahlen.
    „Sei nicht so kleinlich mit dem Trinkgeld“, sagt Vater, während ich noch die Münzen aus meiner Geldtasche fingere. Ich sehe, wie der Kellner ihm ein Schmunzeln schenkt, und lege das Doppelte des Betrages hin, nur damit Vater still ist.
    „Das ist zu viel“, sagt er und nimmt zwei Münzen vom Tisch, bevor sie die flinken Hände des Kellners einstecken können.
    Ich fische das Eis aus dem Glas und das trockene Zitronenstück, während Vater das gerettete Geld in sein Portmonee steckt.
    „Ich sage es dir zum letzten Mal“, beginnt er und ich merke, wie er mit seinem Blick meine Augen sucht.
    „Sprich“, sage ich und suche nach einem Platz, wo ich das schmelzende Eisstück und die Zitrone hinlegen könnte. Vater schiebt mir die Untertasse seines Kaffees über den Tisch.
    „Lass mich allein“, sagt er. „Lass mich in Ruhe. Ich bin nicht dein Kind, obwohl du irgendwann geglaubt hast, es so ausdrücken zu müssen, vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Aber ich bin euch nichts mehr schuldig, dir nicht, Gregor nicht und Mutti auch nicht. Jetzt will ich mein neues Leben leben. Ohne Bevormundung, ohne ständig beaufsichtigt zu werden, ohne erklären zu müssen, was ich ohnehin nicht erklären könnte. Ich bin tot, ihr habt mich begraben, wie es sich gehört, und jetzt habe ich mein Recht auf Totenruhe. Geht das in deinen Kopf?“
    Vater ist laut geworden und ich bin froh, dass wir allein im Lokal sind und der Kellner hinter seiner Theke verschwunden ist.
    „Gut, Vater“, sage ich, „wenn du es so wünschst. Dann fahre ich zurück zu Mutter und sage ihr, dass du nichts mehr von uns wissen willst.“
    „Das wird sie kaum mehr interessieren“, sagt Vater und lacht in sich hinein.
    So saßen wir herum, mein lebendig gewordener Vater und ich, in diesem Café, auf einer Bank im Tiergarten, nebeneinander in der S-Bahn hinaus an einen der romantischen Seen, und versuchten miteinander klarzukommen, indem wir uns auswichen. Einmal standen wir vor der Ruine der Gedächtniskirche und lasen die Inschrift, Vater zuckte mit den Schultern, ließ seine Blicke schweifen und verharrte im Schweigen. Er benahm sich wie einer der Touristen ohne Gedächtnis, und ich verfluchte mich, weil mir die richtige Frage nicht einfiel, weil wir so taten, als wären wir auf einem Sonntagsausflug im Nachbarort.
    Meistens wartete ich vor dem Brandenburger Tor auf ihn und sah ihm zu, wie er die Straße herunterkam zwischen all den Touristen, und dann über den Zebrastreifen ging. So, wie er sich bewegte, wirkte er manchmal fast jugendlich, und auch auf seine Kleidung schien er plötzlich großen Wert zu legen. Er trug einen hellen Anzug aus Leinen, dazu ein offenes Hemd, und es wirkte, als könnte ihm die Hitze, die schwer in den Straßen lag, nichts anhaben.
    Die jungen Kellnerinnen warfen ihm erstaunte Blicke zu, wenn er an ihnen vorüberging, vielleicht, weil auch ihnen der Kontrast zu den anderen Gästen ins Auge sprang, der Kontrast zu den quellenden Schenkeln unter den Bermuda-Shorts, den weißen Sportsocken in den Sandalen, den abgeschnittenen Jeans und bunten Zigeunerröcken. Vater schien diese Blicke zu bemerken, sein Schritt griff dann weiter aus als sonst, er straffte seinen Rücken, wenn er sich wieder hinsetzte, aber er wollte sich nicht dazu äußern.
    „Wie war das denn damals“, versuchte ich ihn zu überrumpeln, „1943, 1944 hier in dieser Stadt, du hast uns nie etwas davon erzählt.“
    „Du musst das natürlich fragen“, sagte

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