Berliner Zimmer - Roman
erzählt mir, dass die Videoüberwachung im gesamten U-Bahn-Bereich erst letztes Jahr neu installiert wurde. Ein- und Ausgänge, Rolltreppen, Fahrschächte, kein Winkel bleibt den Augen der Kameras verborgen. Fünfzehn Angestellte der Sicherheitsfirma sitzen ständig vor den Monitoren und sind über Funk miteinander verbunden.
„Da“, sagt der eine, der David heißt, und dreht sich zu mir: „Jetzt kommt sie wieder zurück.“
Ich wundere mich, warum er so freundlich ist, so hilfsbereit.
„Sehen Sie“, sagt David noch einmal und zeigt auf einen der Bildschirme in der letzten Reihe. Tatsächlich, da ist sie wieder. Klara Hubmann. Und dahinter kommt einer nach, der aussieht wie Vater. Heller Anzug, Trippelschritte und so etwas wie ein verhaltenes Staunen im Gesicht, in seinen Bewegungen.
Die beiden treten aus dem Dunkel des Bildschirmhintergrunds auf die Plattform der untersten Etage, mit einem ausholenden Schritt, wie jemand, der von einem Boot ans Ufer steigt, dann gehen sie auf die Rolltreppe zu und fahren nach oben. Auf dem Monitor, der den oberen Teil der Rolltreppe zeigt, sehe ich, wie sie hintereinander heraufkommen, und am Ende der Treppe, da, wo man wieder festen Boden betritt, dreht Klara sich um und der Mann hinter ihr greift nach ihrer Hand.
Da dringt Almas Stimme wieder durch zu mir, Papa, sagt sie, Papa, fast flehentlich, aber nein, es ist Klaras Stimme, ganz deutlich.
Wir sitzen in einer Küche auf alten Stühlen, oder sind es Kisten, ich sehe es nicht so genau, und Klara klappert mit den Kaffeetassen, sie dreht ihren Blick in die Helligkeit des Fensters und sagt Papa zu Vater. Wo er doch Erwin heißt, lacht sie, was rede ich da, und dann spricht sie nur mehr über ihn, der irgendwo hinten im Dunkel des Zimmers sitzt und den ich nicht sehen kann.
Und er blickt mich an, sagt Klara, er sieht mir in die Augen. Ich hole dich, sage ich. Du kommst mit mir. Wir gehen zurück, gemeinsam gehen wir zurück.
Und er antwortet mir, so, als ob auch er auf mich gewartet hätte.
Das wird aber Zeit, sagt er.
Wo die Zeit doch längst abgelaufen war.
Aber was ist Zeit, wer versteht das schon?
Ein Mann bestimmt nicht.
Nur die, die es gewohnt sind, ihren Körper zu betrachten.
Das lernt kein Mann.
Ich aber habe immer hingeschaut, auf die Veränderungen, auf den Verfall.
Ich habe meine Haut betrachtet, morgens und abends.
Und immer habe ich mich gefragt, ob noch einer darüberstreichen wird mit zitternder Hand, wie damals.
Einer, sagt Klara und lacht in sich hinein. Um ihre Schultern trägt sie ein Tuch, das Falten wirft, ein griechisches Himation. Und dazu ihr Sommerhütchen, wie im falschen Film.
Für die Männer, die mich besuchten, sagt sie, war der Körper nichts anderes als ein Instrument, eine Maschine.
Eine Maschine, die irgendwann kaputtgeht wie alle Maschinen.
Ich aber habe meine Jahre gezählt, jeden Tag.
Zu viele, immer zu viele.
Zu viele, seit ich letztes Mal deine Hand gespürt.
Zu viele, seit ich den Druck deiner Finger auf meiner Haut.
Zu viele, seit ich in dein Gesicht.
Jetzt bist du alt, jetzt bist du tot.
Du aber schaust mich an, als läge nur eine Nacht zwischen uns.
Ein tiefer Schlaf, aus dem du gerade aufgewacht bist und dich erinnerst.
Ja, erinnere dich, wen du umarmt hast, vor ein paar Stunden nur.
Klara, hast du gesagt, endlich.
Du schüttelst die Jahre einfach von dir ab, wie ein Baum, in den der herbstliche Wind fährt, seine Blätter.
Was Warten ist, nein, das weißt du nicht.
Du hast keine Ahnung.
Du weißt nicht, wie man die Sekunden zählt, eine nach der anderen.
Sechsundachtzigtausendmal. Sechsundachtzigtausendvierhundertmal.
Und das ist nur ein Tag.
Sechsundachtzigtausendvierhundert Achs.
Sechsundachtzigtausendvierhundert Ochs.
Und ein Tag ist nichts gegen zwei, gegen drei, gegen dreißig Tage.
Und dreißig Tage sind nichts gegen dreihundert Tage, dreitausend Tage.
So viele Sekunden, so viele Seufzer.
Und die Angst, dich verloren zu haben für immer.
Nicht dich, der schon verloren, nein, die Bilder von dir.
Die Erinnerungsbilder. Du in meiner Kammer, dein blasser Rücken. Und dein geschorenes Haupt an meiner Wange. Deine Hände, über die der Feuerschein zuckt.
Und deine Stimme.
Und deine Sprache, wer sagt denn schon Grüßgott in Berlin.
Denn Warten heißt, dass alles verblasst.
Dass alles dünner wird, fadenscheiniger.
Dass man dein Gesicht nicht mehr nachzeichnen kann.
Aber ein Mann versteht das nicht.
Nur die Sehnsucht, flüstert die
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