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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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„hast du sie etwa gar nicht gelesen?“
    Ich kann mich weder an das Thema erinnern noch an irgendeinen Text zu diesem Thema, auch nicht an den Kommentar des Lehrers, wahrscheinlich hatte ich mechanisch meine Unterschrift hingesetzt. Ich sage Alma, dass es zu lange her sei und dass mich ihre Version der Geschichte wirklich interessieren würde.
    „Und das Heft?“, fragt Alma.
    Sie hat es eingepackt, zusammen mit den anderen Schulsachen, damit ihre Mutter sehen könne, was sie in der Schule so leiste. Und damit ihr Vater nicht die ganze Verantwortung alleine tragen müsse. Ich erinnere sie an ihre eigenen Worte.
    „Also gut“, sagt Alma, „nur weil du es bist.“
    Sie legt den Hörer hin und es dauert eine Weile, bis sie wieder zurück ist.
    „Ich lese jetzt“, sagt sie.
    „Und ich höre zu.“
    „Mein Gott, das ist er“, beginnt Alma mit ihrer klaren Stimme zu lesen, „er ist es, Orpheus, mein geliebter Mann. Ich sehe einen Schatten die Stufen heruntergehen und erkenne ihn aus hundert Metern Entfernung. Ich erkenne seine Schritte, seinen Gang, seine Bewegungen.“
    Und ich setze mich aufs Bett in diesem Berliner Zimmer, in dieser Pension, und höre meiner Tochter zu, ihrer Mädchenstimme, dem Stakkato der Wörter und Sätze, den unschuldigen Gedanken eines Mädchens, das sich in die Rolle einer Liebenden aus dem Totenreich versetzt. Und je länger ich ihr zuhöre, desto weiter wandern meine Gedanken ab, gehen auf ihre eigene Reise, und ich höre zu, presse mein Ohr an den Hörer, sitze in diesem Zimmer auf diesem Bett, und vergesse zunehmend, wer es ist, der hier spricht, der hier erzählt. Irgendwann ist es nichts als eine Stimme, eine flüsternde Stimme.
    „Er ist es“, sagt die Stimme an meinem Ohr, „er ist es, mein Geliebter. Die Zeit hat ihn nicht verändert, das Wesentliche hat sich nicht verändert. Das Staunen, das sich in seinem Gesicht ausbreitet, wenn man seinen Namen sagt. Wer weiß, woran es liegt, dass ich ihn wiedererkenne, im ersten Moment.
    Ich gehe auf ihn zu, ohne mich um die anderen zu kümmern. Orpheus, sage ich, und er dreht sein Gesicht ins Licht. Ich warte darauf, dass ein Erkennen über seine Züge geht, ein langsames Aufhellen der Erinnerung, das den Schatten durchdringt, aber er dreht sich wieder weg von mir, als wüsste er nichts mehr. Dann rufe ich ihn noch einmal.
    Ja, und dann geschieht es. Im Umdrehen blitzt in seinen Augen das Licht auf. Er sucht keine Sekunde lang nach meinem Namen. Klara, sagt er. Und dann, als ob er auf mich gewartet hätte: Das wird aber Zeit.
    Wo die Zeit doch längst abgelaufen war.“
    „Papa“, höre ich plötzlich Alma im Hörer, „soll ich weiterlesen?“
    „Ja“, sage ich, „lies, meine Kleine, lies.“
    Und Alma setzt wieder an, wiederholt den letzten Satz für mich, damit ich wieder in die Geschichte hineinfinde, sie liest weiter in ihrer Arbeit, in ihrem Heft, das sie vor sich ausgebreitet hat, aber im Nu tauche ich wieder unter die Oberfläche ihrer Schulmädchenwörter ab – und ich sehe vor mir, wie Klara auf meinen Vater zugeht, auf den Mann, auf den sie so lange warten musste, und plötzlich, Schnitt, und auf einem der Monitore der Überwachungsanlage sehe ich sie ganz deutlich vor mir. Ist das nicht der S-Bahnhof Friedrichstraße mit seinen grün gekachelten Wänden? Oder Unter den Linden? Und da ist Klara Hubmann, ich sehe sie von hinten, sie steht auf der Rolltreppe, die steil nach unten führt zur letzten Ebene. Dort geht sie den Bahnsteig entlang mit kleinen Schritten. Sie trägt jetzt keinen Stock mehr, aber sie muss es sein, der leichte Sommermantel, den ich schon bei ihr gesehen habe, das kecke Strohhütchen mit der schwarzen Schleife. Sie ist wie für eine Reise angezogen. Die mitlaufende Uhr am rechten Bildrand zeigt 00. 24 Uhr und zehn Sekunden später trippelt sie oben aus dem Bildausschnitt. Ich suche sie auf einem der nebenstehenden Monitore, einer davon zeigt vielleicht das östliche Ende des Bahnsteiges, und tatsächlich taucht sie dort auf.
    Man sieht sie von vorne, klein und gebeugt, eine alte Frau im hellen Mantel, der ihr um einiges zu groß geworden ist. In der linken Armbeuge die dunkle Lederhandtasche, dann sehe ich in ihr Gesicht. Für einen kurzen Augenblick fällt ein Lichtstrahl darauf und ich sehe in ihren Augen das Leuchten.
    „Kann man näher ran?“, frage ich.
    Der junge Mann, der plötzlich neben mir im Überwachungsraum auftaucht, hantiert an den Reglern herum und schüttelt den Kopf. Er

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