Berliner Zimmer - Roman
Vater, „als Nachgeborener. Aber eigentlich willst du wissen, wie das mit dem Krieg war und ob ich auch einer der Wehrmachtsverbrecher bin, von denen jetzt überall geredet wird.“
„Ach, was“, sagte ich, „ich bin einfach nur neugierig geworden. Jetzt, wo ich doppelt so alt bin, wie du damals warst. Ich kann mir dich partout nicht als jungen Mann vorstellen. Hilf mir doch! Es ist Alma, deine Enkelin, die mich fragt, was du im Krieg gemacht hast. Sie wirft mir vor, nie mit dir darüber geredet zu haben.“
Vater lachte auf. Er wollte wissen, wo Alma sei, und ich erzählte ihm, dass ich sie auf Astrids Bauernhof gebracht hätte.
„Aber bleiben wir bei dir und deiner Vergangenheit“, sagte ich, „du weißt selbst, dass du mir noch etwas schuldig bist. Oder uns.“
Vater richtete seinen Oberkörper auf und wollte schon zum Widerspruch ansetzen.
„Sei still, Vater“, sagte ich, „ich weiß, was du sagen willst. Aber ich lasse mich nicht mit irgendwelchen Sprüchen abspeisen oder mit irgendwelchen Weisheiten. Und es geht mir auch nicht um verspätete Geständnisse.“
„Was willst du dann?“, sagte Vater.
„Eine Geschichte“, sagte ich, „deine Geschichte. Ich weiß so gut wie gar nichts von deiner Zeit vor uns. Von deiner Jugend, von deinen Berliner Jahren, wenn du so willst. Da ist nur Leere, wenn ich an dich denke.“
Vater sah mich erstaunt an.
„Das hat euch doch nie interessiert“, sagte er entrüstet und drehte sich nach der Bedienung um, die hinter seinem Rücken vorbeilief.
„Zahlen!“, rief er im Befehlston, und das Mädchen in der langen weißen Kellnerschürze beeilte sich, den Schein, den ihr Vater hinhielt, in Empfang zu nehmen.
Aber so wollte ich ihn nicht davonkommen lassen. Nicht jetzt, wo ich so weit war.
„Du hast recht“, sagte ich, „es hat mich tatsächlich nie interessiert. Erst jetzt, wo du tot bist, merke ich, dass in unserer gemeinsamen Geschichte ein ganzes Stück fehlt. Diese Geschichte ist auch meine Geschichte, und sie ist auch Almas Geschichte. Zumindest sie hat ein Recht darauf, alles zu erfahren, unsere ganze Geschichte. Also los, erzähle!“
Vater, der sich schon erhoben hatte und mir zuhörte, vornübergebeugt und sich mit einer Hand auf die Lehne seines Stuhls stützend, setzte sich wieder. Widerwillig, wie mir schien, aber vielleicht wollte er kein Aufsehen erregen.
„Ich habe hier eine Frau kennengelernt“, stieß ich nach. „Eine Frau namens Klara. Klara Hubmann. Das müsste dir doch was sagen.“
„Das geht dich alles nichts an“, sagte Vater und warf mir einen bösen, unwilligen Blick zu. Dann stand er abrupt auf, wobei er beinahe seinen Stuhl (Wiener Geflecht) umwarf, und stakste davon. Ich sah ihm nach, bis er im Getümmel der Straße verschwunden war.
Ich kriegte ihn nicht zu fassen. Sogar in meiner Phantasie lief er vor mir davon. Jetzt, wo ich bereit gewesen wäre, mit ihm zu reden, wollte er nicht mehr. So blieb mir nichts anderes übrig, als am Abend, nachdem ich den ganzen Tag durch die Stadt gestreift war oder mir unsinnige Vorträge angehört hatte, in meinem Zimmer mein Schreibheft zu öffnen, mein Gedankenheft, und dort meine Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen. Manchmal, wenn ich wieder einmal aus dem Schlaf hochfuhr, mich schweißgebadet in den Laken wälzte und nicht mehr einschlafen konnte, setzte ich mich an das Tischchen unter dem Fenster und beschloss, meine Sachen zu packen, nach Rügen zu fahren und Vater einfach zu vergessen.
Zwischendurch fiel mir Alma ein und ich fragte mich, was sie damals wohl gemeint hatte, als sie mir vorgeworfen hatte, nie mit Vater geredet zu haben, und ich ihr entgegnete, dass es nicht an mir, sondern an Vater lag, der nie den Mund aufgemacht hatte. Das sei doch bekannt, hatte ich ihr aus der Überlegenheit des Erwachsenen gesagt, die meisten Deutschen aus der Kriegsgeneration hätten geschwiegen wie ein Grab, hätten versucht, Gras über alles wachsen zu lassen, was ihnen unangenehm war. Aber Alma hatte das noch mehr aufgebracht, dass ich ihren Großvater in die Ecke der deutschen Blockwarte und Gestapobeamten stellte, sie war aufgesprungen und zwischen den Zähnen hatte sie hervorgepresst, ob ich mir denn nicht vorstellen könne, dass sich jemand vielleicht auch schäme. Dass jemand schweige aus Scham.
Das fiel mir jetzt ein, während ich in meinem Kopf auf Vater eindrosch, damit er endlich seine Geschichte zu Ende erzählte und wir alle unsere Ruhe hätten. Ja, vielleicht hatte
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