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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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sich nicht beruhigen, der Herzschlag will keinen Rhythmus finden, bis irgendwann die Nichte oder sonst jemand den Notarzt ruft.
    Ich soll ihn aufmuntern, soll mit ihm reden, es kann nicht mehr lange dauern, wird mir gesagt, da füllt schon das Martinshorn die sirrende Luft vor dem Fenster und gleich stürmt ein ganzer Trupp von Sanitätern die Treppe herauf. Sie sehen sich die Bescherung an, jemand schreit Sauerstoff, und ehe man sich’s versieht, ist ein anderer schon abtransportiert, weg, nie da gewesen.
    Ich höre dem Martinshorn nach, bis es verklingt, und es fällt mir schwer, das Wort Vater in den Mund zu nehmen. Wir sitzen in der Küche, Frau Hubmann, ihre Nichte, die doch im Trubel aufgetaucht ist, und das Wort Vater will mir nicht von den Lippen.
    Und ich habe niemanden, dem ich von meinem Ärgernis erzählen kann, davon dass hier jemand auftaucht so plötzlich. Auf einmal kann ich Gregor, meinen Bruder, verstehen. Aber hier dauert die Bestürzung darüber, dass einem jemand, der tot sein soll, plötzlich unter die Augen tritt, nur eine kurze Zeit an. Ein paar Sekunden, eine Minute oder zwei. So, als ob die Präsenz alles sofort überlagern würde, jeden Zweifel … und im Nu erscheint Vaters Tod wie geträumt. Ich wache hier in einer Wohnung in der Schönhauser Allee aus den unmöglichsten Träumen auf und ab jetzt ist alles real.
    „Wo bringen sie ihn hin?“, frage ich und Klaras Nichte erklärt mir den Weg zum Krankenhaus, das ich nicht kenne, zur Station, deren Patient er schon länger sei.
    Dann bin ich mit Klara Hubmann allein, ihre Nichte hat keine Zeit mehr, und ich biete mich an, sie zu begleiten. Wir überqueren die Schönhauser Allee und drehen eine Runde im Park, Frau Hubmann hängt sich mit dem linken Arm bei mir ein und rechts trägt sie den Stock.
    „Ich habe so oft an ihn gedacht“, sagt sie plötzlich. „Die ganzen Jahre. Ich konnte mir nicht vorstellen zu sterben, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben. Das war mein einziger Wunsch. Dass er noch einmal kommt. So oder so. Schließlich habe ich mein ganzes Leben darauf gewartet.“
    Wir gehen unter den großen Linden durch, in denen die Vögel zwitschern wie verrückt. Die Sonne ist ein roter Ball zwischen den Zweigen und Blättern und Frau Hubmann zählt die Jahre auf, in denen sie auf ein Zeichen gewartet hatte, das nie kam. Ja, sagt sie, sie habe immer wieder geschrieben, die ersten Jahre, an die Adresse, die sie über eine Soldatenhilfsorganisation bekommen hatte, aber vielleicht seien ihre Briefe nie angekommen. Und irgendwann habe sie das Schreiben aufgegeben, es war sinnlos geworden.
    „Ich habe ja nicht gewusst, ob er den Krieg heil überstanden hat“, sagt Klara Hubmann und wechselt auf meine andere Seite. Sie reicht mir gerade bis an die Schulter, ist vielleicht so groß wie Alma mit ihren dreizehn Jahren. Ein altes Fräulein, wie sie sich selbst bezeichnet. Beharrlich versucht sie mir zu erklären, wie man ein ganzes Leben lang mit jemandem sprechen kann, der nicht hier ist.
    „Er muss mich gehört haben“, sagt sie, „ansonsten wäre er nicht plötzlich vor meiner Tür gestanden.“
    Ich begleite sie nach Hause, über die ausgetretenen Treppen bis zu ihrer Wohnungstür, und beschließe, niemandem mehr zu glauben.

14
    Ich solle ihr etwas erzählen, sagt Alma spät abends am Telefon, es sei so schrecklich eintönig bei den sieben Zwergen und nichts los. Eine spannende Geschichte, fleht sie, so wie früher manchmal, nur damit sie aus dem Gähnen komme. Eine Geschichte aus der Großstadt, aus Berlin oder wo ich sonst sei.
    „Du solltest längst im Bett sein“, sage ich.
    „Ich kann doch ohne Geschichte nicht einschlafen“, mimt sie das kleine Mädchen und ich tue so, als ließe ich mich erweichen.
    „Kennst du die Geschichte von Orpheus und seiner Geliebten?“, frage ich.
    Ich höre, wie Alma die Luft durch die Nase stößt.
    „Seiner Ehefrau“, korrigiert sie mich. „Langweilig, Papa, nichts als langweilig“, sagt sie und dehnt jedes Wort. Sie hatten eine Fassung davon in der Schule gelesen (oder war es ein Lehrfilm gewesen, das blieb unklar) und dazu sogar noch eine Arbeit geschrieben, eine Hausarbeit, die bewertet wurde. Die Mädchen hatten dabei in die Rolle der Eurydike schlüpfen sollen und davon erzählen, was sie sehen, hören, empfinden, wenn ihr geliebter Orpheus plötzlich im Totenreich auftaucht.
    „Dann lies du mir vor“, sage ich.
    „Aber du hast die Arbeit doch unterschrieben“, sagt Alma,

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