Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
Vom Netzwerk:
hupenden Motorroller und im Tschilpen und Kreischen der Jugendlichen, die sich vor den Eisdielen zusammenrotten.
    Einmal war ich nach der Fahrt ins Zentrum gleich wieder umgedreht, zurückgekehrt, um einen Blick in Vaters Zimmer zu werfen, um mich zu überzeugen, dass er noch da war und die Stille um ihn herum.
    Bald begann ich diese Momente der Ruhe zu schätzen, vor allem die Viertelstunden, in denen sich die Pfleger um Vater kümmerten, ihm das Essen gaben oder ihn säuberten. Ich setzte mich in eine Nische des Ganges, von wo aus ich den norddeutschen Himmel sehen konnte, der so unendlich weit und hell war.
    Ich sah den Kumuluswolken zu, diesen Flusspferden der Lüfte, wie sie vorübertrabten, herumtollten, schnaubend vor Lust, und manchmal phantasierte ich, dass ich zu Hause unter dem schmalen Tiroler Himmel auf der Passhöhe sitze und nichts hatte sich verändert. Ich beobachtete die Autos, wie sie über die Kehren heraufkrochen, sortierte sie nach Farben (sich ausbreitendes Grau) und sah ihnen zu, wie sie auf dem Scheitelpunkt die Seiten wechselten und so von einer Landschaft in die nächste fuhren. Von einem Ort zum anderen, von der Gegenwart in die Zukunft, von einer Zeit in die andere. Und wenn ich nur lang genug hinsah, weitete sich meine Wahrnehmung plötzlich und alles Geschehen erhielt eine eigenartig klare zeitliche Dimension, die zugleich räumlich war und ertastbar wie im Fieber oder im Halbschlaf. Nicht nur die Autos, die über den fernen Pass fuhren, samt ihren Insassen, nein, auch die Besucher hier im Krankenhaus, die an mir vorbeigingen mit Blumen in der Hand oder prall gefüllten Plastiktaschen. In dem Augenblick, in dem ich sie wahrnahm, hüpften sie von der Gegenwart in die Zukunft, wie von einem Zimmer ins nächste. Ich dachte an den griechischen Philosophen, jenen mit dem bekannten Paradoxon, der die Bewegung eines fliegenden Pfeils in lauter einzelne Momente des Stillstands zerlegt hatte (wieso wollte mir nicht einfallen, wie er geheißen hatte), und alles, was ich ins Auge fasste, machte seine Sprünge. Der Pfleger, der gerade aus Vaters Zimmer trat, der rote Sessel, auf dem ich saß, meine Schuhe, meine Socken bestimmt auch. Der Rollstuhlfahrer, der an mir vorüberglitt, samt seinen Kopfhörern und den Rastalocken, auch er sprang gerade in diesem Augenblick. Von der Gegenwart in die Zukunft, die im selben Moment, im nächsten Moment schon wieder Gegenwart war, und alles rund um mich herum setzte jeden Moment erneut zum Sprung an, immer weiter, immer weiter.
    Und einmal, mitten in dieser Vorstellung von Zeit, als ich in der Krankenhausnische darauf wartete, dass Vater gewaschen und neu gewindelt wurde, fiel mir ein, ob es nicht auch möglich sein könnte, rückwärts zu hüpfen, zurück in die verlassenen Zimmer. Zurück in das, was hinter einem liegt, in das, was man längst geräumt hat.
    Ein junges Paar stand plötzlich vor mir, stammelnd, radebrechend, und fragte nach der Chirurgischen Abteilung. Ausländer, der Hautfarbe nach aus weit südlichen Ländern, beide mit verweinten Augen, sie hielten sich an den Händen. Ich versuchte ihnen den Weg zu erklären, stand auf, begleitete sie bis zur Treppe. Sie bedankten sich, indem sie meine Hand ergriffen und murmelnd ihren Kopf an meine Brust lehnten. Dann gingen sie nach unten, von einem Treppenabsatz zum nächsten, hüpften von einer Etage in die andere.
    Manchmal stellte ich mir vor, dass ich in Vaters Krankenzimmer trete und er stünde angezogen neben seinem Bett, neben sich seinen roten Flugkoffer, bereit zu gehen. Er war ungehalten darüber, dass ich ihn so lange hatte warten lassen. Oder er war tot und die Pfleger gerade dabei, ein weißes Leintuch über seinen Körper und sein Gesicht zu ziehen. Und beide Vorstellungen lösten in mir dasselbe Gefühl aus, ein Gefühl von Erleichterung, von Einverstandensein mit dem, was da auf mich zukam. Wenn nur etwas passierte.
    Dann riss mich das Klappern der Tür aus meinen Gedanken, die Pfleger schoben ihren Wagen an mir vorbei und lächelten mir zu. Ich wusste, dass ich das Zimmer wieder betreten konnte, und wenn ich die Tür öffnete, waren meine Phantasien verflogen. Da lagen zwei alte Männer, einer davon musste mein Vater sein, und für beide stand nur mehr eine Tür offen und dann war Schluss.
    Ob ich wisse, was eine Palliativstation sei, war ich von der Ärztin gefragt worden, bei der ich mich nach Vaters Befinden erkundigte, kurz, nachdem er eingeliefert worden war. Als ich bejahte,

Weitere Kostenlose Bücher