Berliner Zimmer - Roman
schien sie unzufrieden, vielleicht hätte sie mir gerne erklärt, was ich ohnehin wusste.
„Noch ein paar Wochen“, sagte sie, „mehr wohl nicht.“ Dann reichte sie mir ihre Hand, es war eine Bauernhand oder auch eine Mecklenburgische Seemannshand, breit und kräftig genug, um Patienten zu stützen, wenn sie über die letzte Schwelle gingen.
„Ja“, sagte ich, „das ist noch eine schöne Zeit.“
17
Am Sonntagabend rief Gregor an. Ich solle raten, wo er sich befinde, sagte er mit aufgeregter Stimme.
Ich hatte gerade meine Pension verlassen, um mir etwas zum Essen zu besorgen, wich einer Gruppe blau-weiß gewandeter Fußballfans aus, die durch das Viertel schwärmten und unverständliche Parolen skandierten, und sagte ihm, dass ich keine Ahnung habe.
„Ich bin hier, am Flughafen Schönefeld“, schrie Gregor und gab sein Mobiltelefon an Angelina weiter.
Sie waren mit einer Delegation der Stadtverwaltung nach Berlin gekommen, eine Studienreise nannte es Angelina, und hatten einige Empfänge vor sich, beim Bürgermeister sowie bei einem bekannten CSU -Abgeordneten, der in den Bergen unserer Vaterstadt manchmal Urlaub gemacht hatte. Die Mehrzahl der Stadträte hatte ihre Ehefrauen oder Lebensgefährtinnen mitgenommen, schließlich war die Fahrt bezahlt und man wusste ja nicht, ob man noch einmal im Leben die Möglichkeit hatte, in die deutsche Hauptstadt zu kommen. Sie waren gerade gelandet und warteten am Laufband der Gepäckausgabe auf ihre Koffer.
„Vaterstadt ist gut“, sagte ich.
„Was willst du damit sagen?“, fragte Angelina.
„Vaters Stadt heißt jetzt Berlin“, sagte ich.
Und als Angelina darauf nur mit einem unverständlichen Ausruf antwortete, erklärte ich ihr, dass Vater hier sei, in der Stadt, die sie soeben betreten hatten.
„Er liegt hier im Krankenhaus“, sagte ich, „die Ärzte geben ihm noch vierzehn Tage, mehr nicht. Aber ich will euch das nicht alles am Telefon erklären.“
Wir trafen uns in der Nähe des Brandenburger Tores, ich hatte Angelina den Weg beschrieben, und ich sah die beiden von weitem, wie sie aus der U-Bahn-Station kamen und nach dem Monument suchten, das sie aus dem Fernsehen kannten. Gregor trug trotz der Hitze sein Sakko, Angelina hatte die Haare hochgebunden, suchte den Schatten der Häuser und fächelte sich mit dem zusammengefalteten Stadtplan Kühlung zu. Gregor meinte, er müsse gleich wieder los, man sehe sich im Hotel, ich solle doch auch kommen, ich sei auf jeden Fall eingeladen. Dann machte er sich davon, lief quer über den Platz mitten durch eine Busladung russischer Touristen und winkte nach einem Taxi.
Angelina küsste mich auf beide Wangen und sagte, wie froh sie sei, dass sie nicht allein sei.
Ich schlug ihr vor, morgen Nachmittag zusammen ins Krankenhaus zu fahren, wenn sie Zeit hätte.
„Verrückt“, sagte Angelina.
Ich hatte mir keine Vorstellung gemacht, wie sie mit der Nachricht von Vaters zweitem Leben (oder sollte ich Doppelleben sagen) zurechtkam, sie schüttelte zwar ein paar Mal ungläubig den Kopf, als ich ihr die Sachlage zu erklären versuchte, aber dann war sie gleich wieder die Angelina, die ich kannte. Sie erkundigte sich nach den Besuchszeiten auf der Station, wollte genau wissen, was mir die Ärzte gesagt hatten, und notierte sich die Verkehrsverbindungen zum Krankenhaus, das am Kladower Damm weit außerhalb des Zentrums lag. Ich erzählte ihr von Klara Hubmann und Angelina lächelte still in sich hinein, als ich beschrieb, wie ich sie gefunden hatte. Von Vaters Schamausbruch erzählte ich nichts.
Wir überquerten die Straße und gingen ein paar Schritte durch den Park. Läufer in neonfarbenen Trikots überholten uns keuchend, andere kamen uns entgegen und wichen weiträumig aus. Angelina lief neben mir und hatte viel zu erzählen. Von Mama, welche sich hartnäckig geweigert hatte, ihren wirren Kopf untersuchen zu lassen, von Alma und deren Mutter, welche sie einmal zufällig beim Einkaufen getroffen hatte, nur Gregor erwähnte sie kaum. Erst als ich nachfragte, kam heraus, dass er es geschafft hatte, in die Vorwahlen zur Bürgermeisterkandidatur zu kommen.
„Und du?“, sagte ich.
Angelina schwieg einen Augenblick, dann erzählte sie von ihrem letzten Besuch in Salzburg, wo sie aufgewachsen war und wo ihre Eltern lebten. Ich hatte die beiden nur ein Mal gesehen, bei Gregors und Angelinas Hochzeit, und nachher nie mehr. Sie mussten schon über achtzig sein, kamen aber, wie Angelina mehrmals erwähnt hatte,
Weitere Kostenlose Bücher