Berliner Zimmer - Roman
Und irgendwann waren sie vollkommen verschwunden, aus meinem Blickfeld, aus meiner Wahrnehmung, wie nicht mehr vorhanden.
Ich drehte mich um und ging im Laufschritt zurück. Als ich ins Licht der U-Bahn-Station trat, sah ich, dass es bereits sehr spät war. Die Bahn war gerade weg und ich musste eine halbe Stunde auf die nächste warten.
Ich setzte mich auf eine der Wartebänke, den Blick in den dunklen U-Bahn-Schacht. Weiter vorne stand jemand, den Oberkörper gebeugt. Ein älterer Mann, dunkle Joppe, graumeliertes Haar. Und als ich wieder hinsah, war er weg. Vielleicht war ihm das Warten zu lange geworden.
Nicht wie Klara Hubmann, dachte ich, die ein Leben lang auf jemanden gewartet hatte. So zumindest sah es aus, rückblickend. Sie hatte ihr Leben gelebt und dabei gewartet, all die Tage, Monate und Jahre, auf den Mann, in den sie sich damals verliebt hatte. Sie hatte zugesehen, wie sie älter wurde, wie ihr Körper langsam verfiel, sie war von einem Heimatland ins andere geschubst worden, von Großdeutschland in die DDR und dann wieder zurück, sie hatte all die wichtigen Männer kommen sehen und gehen, von denen man in den Geschichtsbüchern liest. Aber das alles hatte sie vielleicht nicht wirklich berührt, denn sie wartete auf diesen Jungen. All die Jahre, nur um ihn noch ein Mal zu sehen, ihn zu berühren, ein letztes Mal.
Vielleicht war es so, wer weiß. Ich musste zugeben, dass ich keine Ahnung hatte, was die beiden verband. Eine gemeinsame Nacht, war das nicht etwas wenig? Plötzlich schien mir alles, was sie mir bisher erzählt hatten, nicht mehr als eine Oberfläche zu sein. Es war, als verschwiegen sie mir das Wesentliche, aber was konnte das sein? Ich hatte keinen Schimmer und war froh, als sich endlich die U-Bahn mit lautem Kreischen ankündigte.
16
Der Berliner Sommer in diesem Jahr war, wie sich allmählich herausstellte, eine einzige Schönwetterperiode. Der Hochdruck war stationär, die Meteorologen kamen aus dem Staunen nicht heraus, so etwas hatte es seit Beginn der Wetteraufzeichnungen nie gegeben. Auf den Temperaturkarten im Fernsehen herrschte tiefes Rot, was anhaltende Hitze bezeichnen sollte, und die Herren vom Wetterbericht trugen Hemden mit Kurzarm und machten launige Bemerkungen über die globale Erwärmung.
Auf den breiten Straßen von Berlin Mitte dampfte bereits am späten Vormittag der Asphalt vor Hitze und als Fußgänger wechselte ich ständig die Straßenseiten, dorthin, wo unter Markisen oder Balkonen noch ein wenig Schatten zu finden war. Die Bäume, die es hier früher bestimmt gegeben hatte, waren der Stadtplanung zum Opfer gefallen und plötzlich verstand ich, warum die Prachtstraßen früherer Zeiten allesamt Alleen gewesen waren.
Aus Frankreich und Italien wurden die ersten Hitzetoten gemeldet, aber hier im Norden kümmerte das kaum jemand. Schließlich kam man auch hier aus einer Regenperiode, die nicht hatte enden wollen, und mit Dürreplagen hatte man in dieser Region unweit des Polarkreises überhaupt keine Erfahrung.
Entlang des Spreeufers wurde Sand aufgeschüttet, im Nu fanden sich Liegestühle und blauweiß gestreifte Sonnenschirme, die Radiosender spielten italienische Schlager und spanische Schnulzen, in denen sich amor auf cor reimte, ganz Berlin befand sich über Nacht am Mittelmeerstrand. In den Abendnachrichten wurden Minister gezeigt, die mit offenem Hemd und über die Schulter gelegten Jacketts Interviews auf Terrassen gaben, und es fehlte nicht viel, dass sie die anhaltende Schönwetterperiode ihrer guten Regierungsarbeit zuschrieben. Frau Hubmann und ich gehörten zu den wenigen, die sich tagsüber in ihren Zimmern einschlossen.
Gegen fünf Uhr abends trafen wir uns manchmal an der Auffahrt zum Krankenhaus, wo Vater lag. Vom Haupteingang sah man auf die Rampe zur Notaufnahme, wo in rasender Abfolge Rettungswägen mit Blaulicht vorfuhren. Die Sanitäter schleiften nach Luft schnappende Dicke, verzweifelte Mütter mit ihren sonnenverbrannten Kleinkindern und dehydrierte Greise in die Erste Hilfe. Ich stellte mir vor, wie sie sich nach gelungener Behandlung wieder in die Schlange vor den Freibädern einreihten und den Sommer genossen, als wäre es der letzte.
Wir fuhren mit dem Aufzug nach oben und auf der Palliativstation des Krankenhauses herrschte die Stille und Andacht eines Herbstmorgens. Die Luft war von der Klimaanlage auf zweiundzwanzig Grad heruntergekühlt und wir erholten uns am Sterbebett meines Vaters. Von irgendwoher roch es nach
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