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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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Kartoffelfeuern, es war Klara, die dies gleich bei unserem ersten Besuch bemerkte. Aber das konnte kaum sein, vielleicht war es verdampftes Öl aus einer Duftlampe, die im Schwesternzimmer stand. Als ich eine der Krankenschwestern, die an Vaters Körper hantierten, danach fragte, errötete sie und zuckte mit den Schultern. Sie rieche nichts, sagte sie, aber in meiner Erinnerung blieb dieser Geruch haften und verband den Herbst der Ackerlandschaften mit dem Ende, das sich auf dieser Station vollzog.
    Wir konnten nicht viel anderes tun, als Vater zwischendurch die Hand zu halten, seinem rasselnden Atem zuzuhören und mehr als einmal kam mir der Gedanke, dass dies alles nur eine Luftspiegelung war, eine durch die Sommerhitze hervorgerufene Fata Morgana. Wenn Vaters Atem leiser ging, unterhielten wir uns über sein Bett hinweg, flüsternd zumeist, und da es über die augenblickliche Situation wenig zu sagen gab, erzählte Klara Hubmann von damals, von den paar Stunden, die ihr und Vater gehört hatten. Und ich beugte mich über Vaters Bett und hörte zu, staunend, dass es über die wenigen Stunden so viel zu sagen gab.
    „Ich habe es vor mir, als wäre es gestern gewesen“, begann Klara, und hinter diesen Worten tauchte plötzlich der junge Erwin Stockner auf, stand in seiner Wehrmachtsuniform in einem Berliner Krankenzimmer. Er stand da und wartete in einer Ecke auf seinen Einsatz als Liebhaber, als Angsthase oder als verhinderter Deserteur. Er machte einen Schritt nach vorne und dann wieder zurück und blickte verwundert und misstrauisch auf den Alten, der hier im Bett lag und der er selbst sein sollte. Ich ersparte es ihm, darauf hinzuweisen, dass ich sein Sohn war, sein jüngster Sohn werden sollte.
    „Wie er die hölzerne Treppe hinunterläuft“, sagt Klara Hubmann und legt eine Hand auf Vaters stillen Körper, „ich höre noch das Klappern seiner Stiefelabsätze und ich beuge mich aus der Fensteröffnung. Da läuft er dahin. Er rennt zwischen den Trümmerhaufen, klettert über Steine, über Mauerreste, und ich klettere mit ihm. Ich sehe ihm zu, wie er den brennenden Balken ausweicht, die auf die Straße gestürzt sind, es ist beinahe taghell. Und jeden Augenblick kann wieder ein Dachstuhl herunterbrechen, ich bete, dass ihm nichts passiert, und ich sehe seinem flackernden Schatten nach, bis er schließlich hinter einer Hausfassade verschwindet.“
    Und dann dreht sie sich gegen das Fenster, eine Geste, die ich mittlerweile zu kennen glaube.
    „Wir hatten nicht einmal einen richtigen Abschied“, sagt sie, „verstehen Sie. Er war plötzlich nicht mehr in seiner Kaserne, nicht mehr in der Stadt, ich habe es erst fünf Tage später erfahren, von einem Obergefreiten aus seiner Stube. Ein Marschbefehl, sagte er, da kann man nichts machen. Ja, ein Marschbefehl oder wie man das hieß. Und ich wartete in meinem halb zerbombten Zimmer, ich wartete im stickigen Luftschutzkeller, ich lief durch die zerstörten Straßen, die zwischen meiner Wohnung und seiner Kaserne lagen, und wartete. Darauf, dass er wieder auftauchte, einfach da wäre und mich ansähe aus seinen erschreckten Kinderaugen. Ich sehnte mich nach dem Zittern seiner Fingerkuppen, nach seinen unsicheren Berührungen, ich kann nicht sagen, wie. Es war schließlich abgemacht, wortlos abgemacht, dass wir uns wiedersehen würden beim nächsten Angriff. Fast wünschte ich die englischen Flugzeuge herbei, und sie kamen auch, in der nächsten Nacht, in der übernächsten, aber ich blieb mutterseelenallein unter all den anderen im Luftschutzkeller.“
    Vater murmelt etwas in seinem Bett, was ich nicht verstehe, er hält seine Augen geschlossen, als würde er schlafen.
    „Wenn ich doch hätte Adieu sagen können, wenigstens das“, sagt Klara und steht auf. Sie geht ums Krankenbett herum, holt ihre Handtasche, ihren Gehstock, und an der Tür dreht sie sich noch einmal um, als wolle sie sich überzeugen, dass der Todkranke noch hier sei und nicht verschwunden.
    Wenn Klara weg war, blieb ich gewöhnlich noch ein bisschen, um Vaters Lippen benetzen zu können, wenn er nach Wasser verlangte, oder ihn zu rasieren, wenn seine Bartstoppeln zu lang geworden waren, und dann verließ auch ich die Abteilung. Ich stürzte mich in die Stadt und es war fast so wie in italienischen Touristenstädten, in Florenz oder Siena, wenn man sich nach Besichtigung des Domes von einer Sekunde auf die andere mitten im Getöse der Gegenwart wiederfindet. Im Straßenlärm, im Gedränge der

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