Berndorf, Jacques (Hrsg)
seiner Anstellung wurde Waltermann mit einer Tablettenvergiftung ins Krankenhaus Gerolstein eingewiesen. Am 7.7.! Ein erster Selbstmordversuch? Und all die Jahre drauf hat er immer um dieses Datum seinen Urlaub eingereicht.
Der Abteilungsleiter nannte ein mögliches Motiv für den Freitod: Gernot Waltermann hatte vielleicht mit der Sache um den Kämmerer zu tun gehabt, munkelte man hinter vorgehaltener Hand. Mehr als zwei Millionen sind verschwunden. In dreizehn Jahren heimlich verbraten worden. Kann einer allein doch gar nicht. Der Kämmerer ist inzwischen verstorben. Hat sich Waltermann verabschieden wollen, bevor man die Spur zu ihm fand?
Wenigstens der Versuch einer Erklärung.
Ich musste mir Zutritt in seine Wohnung in Dahlem verschaffen. Nicht ganz legal, weil ich von der Staatsanwaltschaft bestimmt keinen Hausdurchsuchungsbefehl bekommen würde. Die Nachbarin hat mir geholfen. Sie hatte einen Schlüssel. Aber auch keine Erklärung, was mit ihm war. Der Waltermann hat immer freundlich gegrüßt, ganz zuvorkommend, ein paar Sätze übers Wetter, mehr war nicht drin. Guten Tag und Auf Wiedersehen.
Die Wohnung war perfekt aufgeräumt. Alles an seinem Platz. Kein Krümel, kein Stäubchen, kein schmutziges Geschirr. Nichts.
Auf dem Küchentisch vier Messer und drei Gabeln mit einer Kordel zusammen gebunden.
Über dem Herd akkurat eine Reihe von scharfen Spitzen mit Bleistift in die Tapete geritzt. Wie ein Holzzaun. Ein Jägerzaun. Ein spitz zulaufender Pfeil mit einer Rundung am unteren Ende.
Auch im Bad gab es mehrere Girlanden mit diesem Motiv. Direkt über dem Spiegel.
Im Wohnzimmer ganze Wände voll.
Auf dem Fernseher ein Dutzend gespitzter Bleistifte. Von Kordel zusammen geschnürt. Die grauen Spitzen zeigten zur Decke.
Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. In seinem Schreibtisch fand ich dicke Rollen Kordel. Noch nicht angebrochen. Als hätte er einen Vorrat für die nächsten Jahrzehnte anlegen müssen.
Als er mir da oben auf der Autobahnbrücke gegenüber stand, dachte ich, du versaust mir nicht meine Bilanz. Gerade erst für fünfzig Fälle gefeiert worden ... und dann das. Aber es ging nicht um die blöde Bilanz. Es ging um die Hilflosigkeit, um diese starren Augen, um diesen Menschen, dem ich nicht helfen konnte.
Ich musste herausfinden, wo er vor seinem Umzug nach Dahlem gelebt hatte. Beim Meldeamt waren sie ziemlich zugeknöpft. Selbst als ich meinen Dienstausweis einsetzte, taten sie so, als seien sie nicht berechtigt, mir Auskünfte zu geben.
Mechernich. Ich fand die kleine Straße im alten Ortskern unterhalb der alten Kirche. Waltermann? Ja, der ist damals weggezogen. Von einem Tag auf den anderen. Plötzlich war er verschwunden. Niemand wusste, was mit ihm geschehen war. Seine Mutter ist zwei Jahre später vor Gram gestorben. Ihr einziger Sohn. Der Vater war schon tot.
Mir kam das Datum wieder in den Sinn. 7.7. Ich fragte danach. Aber keinem in der Straße sagte es was. Reden Sie doch mal mit seiner Nichte, vielleicht weiß die etwas. Sie wohnte in der alten Bergarbeitersiedlung an der Bergstraße.
Ich musste dreimal klingeln.
Sie saß im Rollstuhl. War vom Suizid ihres Onkels benachrichtigt worden. »Das Erste, was ich von ihm seit dem Unfall gehört habe. Das müssen Sie mir glauben.«
»Was für ein Unfall?«, fragte ich.
»Vor vielen Jahren. Mein Verlobter und ich auf dem Motorrad. Er war sofort tot, ich hatte Glück, aber eine Holzlatte hat mich durchbohrt.« Sie zeigte auf die Stelle im Unterleib. »Gelähmt. Nichts zu machen.«
Und dann nannte sie mir das Datum des nächtlichen Unfalls.
Ich zuckte zusammen. Fast zwanzig Jahre her.
Sollte ich ihr sagen, was ich vermutete? Ich brachte es nicht fertig. Waren ja doch nur Indizien.
Im
Stadt-Anzeiger
fand ich unter dem 9. Juli eine kurze Notiz.
»Tragischer Motorradunfall
Nach Einbruch der Dunkelheit verunglückten zwei junge Motorradfahrer auf der Wallenthaler Höhe. Bei überhöhter Geschwindigkeit sind sie auf ein Hindernis gestoßen. Aus einer ungesicherten Ladung waren Latten eines Jägerzauns auf die Straße gefallen. Der Mann Reinhold B. war sofort tot. Seine Beifahrerin ist mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden.«
Die übliche Polizeilyrik. Weder in der Redaktion noch auf dem Polizeirevier konnte sich jemand an den Unfall erinnern. »Zu unbedeutend«, sagte mir der Schichtleiter.
»Einfach zu viele Selbstmörder am Wochenende unterwegs«, fügte er noch hinzu.
Hoffnungen
von
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