Berndorf, Jacques (Hrsg)
Wangen sind röter als das Ketchup.
Ich richte mich auf und bin ihm plötzlich ganz nahe. Seine klebrige Hand in meiner, gebe ich ihm einen scheuen Kuss. Meinen ersten, unseren einzigen.
»Wir sind verlobt!«, quietsche ich viel zu schrill. Doch heute Abend ist es egal, heute ist mir alles egal. Ich quietsche und schreie und kichere, als wäre es das letzte Mal, und irgendwie stimmt das ja auch. Meine Zeit als Junggesellin ist jetzt offiziell vorbei. Keine Reaktion von Lasse. Vielleicht hat er mich im Getöse der überfüllten Bar nicht gehört.
»Leander hat mich heute gefragt! So richtig mit Kniefall und so! Und das nach nur sechs Monaten! Ich kann es noch gar nicht glauben!« Jedes Wort sollte heute groß geschrieben werden und jeder Satz mit einem Ausrufezeichen enden.
»Ja«, haucht Lasse, »es ist wirklich kaum zu glauben.«
Ich erzähle, und ich kichere, und Lasse raucht und hört zu, so wie er immer zuhört, seit über fünfundzwanzig Jahren nun zuhört. Seine Finger spielen mit der Plastikfolie der Zigarettenpackung, und er zieht an seiner Marlboro, schneller, häufiger als sonst. Die Frequenz seiner Züge erhöht sich proportional zu dem Grad seiner Erregung.
»Lasse?«
Er blickt auf von der Plastikfolie, die inzwischen in Stücke zerfriemelt auf der weißen Tischdecke verteilt liegt.
»Lasse, du warst immer für mich da. All die Jahre, all die vielen, grauenhaften Männer hast du mit mir durchgestanden und immer zu mir gehalten.«
»Sag mal, übst du grade deine Tischrede an mir?«, unterbricht er mich, und sein Witz klingt spröder als sonst.
»Grr, nein, lass mich doch mal ausreden! Was ich sagen wollte – du bist mein bester Freund, Lasse, und ich liebe dich ...!« Er blickt auf, und ich platze mit der Neuigkeit heraus: »Bitte, Lasse, sei mein Trauzeuge!«
Erst sagt er nichts. Eine Weile starrt er mich nur an, völlig überwältigt. Dann nickt er langsam. »Ja, natürlich, Mari. Ich tue doch alles für dich.« Seine Stimme knackt, als würden wir durch ein Telefon miteinander sprechen, dumpf. »Würdest du mich jetzt bitte entschuldigen? Ich habe noch einen Termin.«
»Um diese Uhrzeit?«, entgegne ich perplex. »Ach so, Karla und du wollt euren freien Abend ohne den Kleinen feiern?«, grinse ich.
Er lächelt müde. Und dieses Lächeln ist das Letzte, was ich von ihm sehe, vier endlose Wochen lang.
Der Regen fällt in dichten Schnüren herab. Völlig lautlos, ohne Plätschern, als wolle er einen vergessen lassen, dass er überhaupt da ist. Nur ein endloses »Schhh...«, das Geräusch, das meine Mutter gemacht hat, wenn sie mich beruhigen wollte.
»Schhh, meine Kleine, alles wird gut!«, sagt der Regen, nicht wissend, dass er mich nicht mehr beruhigen muss. Vier Wochen rastlose Suche, auf jeder Autobahn, in jedem Hotel, in jedem gottverdammten Landgasthof der Eifel habe ich ihn gesucht, und jetzt steht er hier, einfach so vor mir.
Lasse trägt nur ein dünnes, weißes Hemd, das längst vom Regen trieft, aber es kümmert ihn nicht. Er lehnt an dem Spielplatzgerüst und raucht, als sei nichts, als wäre nie etwas gewesen.
»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, brülle ich. »Ich habe jeden verfickten Stein zwischen Koblenz und Trier umgedreht, und du steht hier seelenruhig an irgendeiner Autobahnraststätte und rauchst! Verdammt, deine Frau hat sich Sorgen um dich gemacht! Und dein Sohn übrigens auch, falls du grade an Spontan-Amnesie leidest und einfach mal so deine Familie vergessen hast!«
Er sagt nichts. Er schnippt die Kippe in den Sandkasten und versucht sich eine neue anzuzünden. Er tut mir leid, wie er da steht und seine letzte Zigarette im Regen aufweicht. Ich schirme sein Feuerzeug vom Regen ab, und er ist plötzlich wieder Lasse, und ich bin plötzlich wieder Mari. »Warum bist du gegangen, Lasse?«, flüstere ich.
Lasse zieht an der Zigarette und lächelt schwermütig: »Ich bin auf der Flucht.«
»Aber wovor denn, verdammt?«
»Vor mir. Vor dir. Aber egal. Jetzt hast du mich ja gefunden.«
Es ist dunkel, und wir liegen schweigend nebeneinander in einem Ehebett, das für Riesen gemacht worden ist. Morgen verfrachte ich ihn in mein Auto und bringe ihn nach Hause. Ich weiß, dass er nicht schläft, doch wir haben seit Stunden kein Wort mehr gewechselt. Es ist seltsam, direkt neben ihm zu liegen und nicht mit ihm zu sprechen, ihn nicht berühren zu können. Lasse ist mir so nahe, dass ich ihn riechen kann. Ein Duft nach Tabak und frisch gewaschener Wäsche. Er
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