Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
Vom Netzwerk:
beste für mich ist …“
    Sie spielte nervös mit einem der Lumpen auf dem Boden, konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie seine Hand wahr, die gedankenverloren über sein Nackenfell strich. Doch schließlich war es ihr nicht mehr möglich, ihre Augen vor dem verzweifelten Unverständnis, das sein Gesicht zeichnete, zu verschließen, jenes Unverständnis, das ihre unausgesprochenen Fragen einzig und allein mit anderen Fragen beantworten konnte.
    Mondschatten sank hinunter auf die Ellbogen, schließlich tiefer, legte sich mit einem Grunzen auf die Seite. Seine Augen verharrten noch einen Moment auf ihrem Gesicht, die geöffneten Pupillen weit und schwarz, und dann, als hätte er sie nun lange genug geöffnet gehalten, schlossen sich seine Lider. Er seufzte freudlos.
    Langsam streckte sie sich an seiner Seite aus, machte es sich auf dem Lumpenbündel bequem. Die kaum spürbare Ausstrahlung seiner Körperwärme vermischte sich mit ihrer eigenen in dem schmalen Raum zwischen ihnen, ohne Feuer, das sie wärmte. Sie roch den subtilen, fremdartigen Geruch seines Körpers, ließ die Spannung von sich abfallen, ließ sich gehen.
    Mondschattens Keuchen ging über in die ruhige Atemweise eines Schlafenden, doch ihr eigener Verstand ignorierte das Verlangen ihres Körpers, die Tiefen ihres Seins suchend, abwägend, überlegend, abschätzend … Wenn sie sich nicht dazu entschloß, die Sternenquelle zu durchschreiten, oder wenn das Unterfangen scheiterte – was blieb dann übrig? Für alle Zeiten hier mit Mondschatten in den Ruinen zu leben, inmitten der Geheimnisse der Vergangenheit, ständig an Tod und Untergang erinnert? Und sie konnten sich nicht tagaus, tagein über die Vergangenheit unterhalten. Sie hatten das Band erprobt, das die Vereinigungszeremonie für ihre Völker bedeuten könnte – aber wie sollten sie sich über die Zukunft, ja selbst über die Gegenwart verständigen? Würde sein verkrüppelter Verstand überhaupt dazu in der Lage sein, wieder ihre Sprache zu erlernen?
    Andererseits konnte sie nicht mehr zu dem Leben, das sie bisher gekannt hatte, zurückkehren, verloren in Träumen unter Toten – zu einem lebenden Tod in einem kristallenen Sarg. War das besser? Oder schlechter? War es besser, diesen zukunftslosen Tod zu akzeptieren, nur weil er etwas darstellte, dessen sie sich sicher sein konnte? Oder war es besser, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, es dem Unbekannten zu überlassen, wo Glück und Erfüllung sie vielleicht belohnen würden – oder wo nichts sie erwartete, nichts …?
    Abrupt öffnete sie die Augen, um Mondschattens schlafendes Gesicht zu betrachten. Seine Furcht, sein Wissen um ihre Sterblichkeit bildeten eine leuchtende Wand gegen ihre Ablehnung, sagte ihr, daß sie es versuchen mußte, um seinetwillen und um ihretwillen – im Auftrag des Lebens, des ewigen Lebens. Aber sie war nur Tarawassie! Tarawassie, nicht Mondschatten, nicht Shemadans oder Basilione, nicht der Erlöser eines fremden Strebens – Tarawassie. Und es war ihr Körper, der leblos im blaugrünen Gefängnis der Sternenquelle driften würde, ihre Seele, die nicht zurückgebracht werden konnte. Es würde einfacher sein, um so vieles einfacher, wenn sie genug Kraft hätte, um einfach so zu glauben, wie er es tat, oder in die Sternenquelle vertrauen, wie Shemadans es getan hatte. Wenn sie nur wüßte, daß es jemanden gab, der ihre entleibte Seele wieder in einen Körper kleidete, nachdem sie sich den transparenten Mysterien der Quelle hingegeben hatte. Den Drachen passieren und in den dunklen Schlund zu tauchen … So einfach, wenn sie nur sicher sein könnte. Aber war sich jemals irgend jemand einer Tatsache wirklich sicher, vollkommen sicher? War es möglich, die Zukunft zu kennen?
    Sie hatte so wenig gesehen und wollte doch so viel erfahren – und keine einschätzbare Maßeinheit konnte ihr die Frage beantworten, ob sie bereit sein würde, sich an die Regeln des Spiels zu halten, bereit, ihr eigenes Leben zum Nutzen des Lebens vieler einzusetzen. Nur ihr Herz würde ihr eine Antwort geben können, nur ihr Herz – und die Sternenquelle würde diese Antwort hören …
    Eine dünne Schneeschicht bedeckte am nächsten Morgen den Boden des Gebäudeeingangs, die weißen Flocken fielen wie der bleiche Staub vergangener Jahrhunderte. Mondschatten bewegte sich zögernd, als hätte er mitunter seine Absichten vergessen, rieb einen Stein an der Klinge seines Messers, um mit den Funken

Weitere Kostenlose Bücher