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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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Sie betrachtete sein silbernes Gesicht und das Spektrum der unterschiedlichsten Gefühle, das sich darin widerspiegelte, sah sein ungläubiges Erstaunen, als die Fähre sich erhob. Seine Gestalt verschwand, als sie die Kuppel des Gebäudes verließ und die Welt hinter ihr zurückblieb. Sie fühlte, daß ein Teil von ihr bei ihm verweilte, und gleichzeitig spürte sie, daß ein Teil von ihm für immer in ihrem Geist leben würde. Und sie erkannte, daß sie sich getäuscht hatte, als sie glaubte, sie würden sich nun vielleicht für immer verlieren … Der graue Nebel einer Wolkendecke umhüllte die Fähre.
    Tarawassie ging durch den Landetunnel des Fähranlegers. Ihre Füße schritten über Kristall, ihr Kopf war inmitten von Sternen. Irgendwo erklang Musik, laut und ohne Melodie. Die Oberflächen der Wände waren mit dunklen, blutenden Farben bedeckt. Sie stand still in der achtlosen Unordnung des Warteraums, bedeckte ihre Ohren, die Augen ungläubig geöffnet. Das war doch nicht etwa – der Webstuhl? Es war unmöglich, daß Mirro ihn bediente! Dieses wildwuchernde, chaotische Gestrüpp war nicht das filigrane Gespinst aus Licht und sanfter Musik, mit dem Mirro sie umwob! Doch was hätte es sonst sein sollen? Dann schloß sie auch ihre Augen, doch sie konnte ihre Sinne nicht vor den tiefen Vibrationen verschließen. Du wußtest, wie es sein würde, du wußtest es, wußtest es genau – von dem Augenblick an, da du dein Spiegelbild sahst. Geh weiter! Geh weiter! Blicke der Wirklichkeit ins Auge …
    Sie ging weiter durch die Korridore, nun rascher ausschreitend, um in den Raum zu gelangen, wo Mirro immer gespielt hatte, wo sie noch immer wob, umgeben von dem dissonanten Klanggespinst, das für sie Schönheit verkörperte. Tarawassie stand schaudernd am Eingang, sie wollte schreien, wollte die einsame Gestalt von der Konsole, die niemals zur Erzeugung von Musik erschaffen worden war, wegreißen, wollte, daß sie aufhörte, aufhörte … Doch sie wußte, es würde nichts nützen, gegen die Wirkung des Chitta anzukämpfen, nichts wäre gewonnen …
    Verfolgt von den Schatten ihrer Spiegelbilder, ging sie ins Traumzimmer. Die Träumer lagen so, wie auch sie oft gelegen hatte, oder wanderten ruhelos umher, verwundert die fernen Sterne betrachtend. Einige schauten auf, als sie eintrat, jedoch ohne Überraschung oder Interesse. Zerschlissene Gewänder hingen sackförmig an ihren ausgemergelten Gestalten. Die Gesichter, die sie jahrelang gekannt hatte, waren wie Masken, die man von fremden Gesichtern, hohläugig und eingefallen, abgezogen hatte. Der Geschmack von Chitta, menschlichen Körpern und Schmutz erweckte Übelkeit in ihr … Jemand kam auf sie zugestolpert. Im Näherkommen erkannte sie Sabowyn, der sie seinerseits nach langen Sekunden der Agonie erkannte. Er berührte sie sanft, wobei er sie geistlos und albern anlächelte. „Du warst fort …“
    „Sabowyn …“ Ihre Hände griffen an seinen Kragen, schüttelten ihn. „Hör mir zu. Ihr könnt nicht weiterhin Chitta trinken, ihr müßt damit aufhören! Das Chitta bringt euch zu Tode – ihr werdet sterben! Bitte, bitte, hör mich an!“ Plötzlich erinnerte sie sich sehr lebhaft an Andars Wahnsinn.
    „Laß mich dich küssen, Tarawassie … Ich werde wieder träumen gehen, aber laß mich dich zuvor küssen …“ Seine Hand strich über ihr Haar, zögernd, als könnte er sich nicht mehr erinnern, warum er dies tat, sein Bart kitzelte ihren Nacken. Sie stieß ihn von sich, ihr Gesicht eine Maske des Abscheus, sah, wie er, noch immer lächelnd, verwirrt auf ein Sofa fiel.
    Sie fand den Aufgang der Spiralrampe jenseits des Raums und hielt nicht an, ehe sie am Rande der Sternenquelle stand. Sie kniete nieder und bestaunte die unendliche Sternenzahl, die sich unmerklich unter den azurblauen Kraftlinien bewegten. Sie fuhr mit der Hand durch den kühlen, widerstandslosen blaugrünen Nebel und suchte den Widerschein ihrer eigenen Augen in den unergründlichen Tiefen. Und hinter diesen, weit dahinter, fand sie das Gesicht ihrer Mutter – und das Andars. Beide lächelten. Und die Essenz ihres Wesens trug den Geist eines anderen in sich, der sie immer begleiten würde, gleichgültig, wohin sie auch ging. Und gleichzeitig gab es jemanden, der immer einen Teil von ihr enthalten würde, gleichgültig, was ihr zustoßen würde. Eine Art Unsterblichkeit, eine ewige Flamme … Langsam erhob sie sich und trat über den Rand.
    Still und lautlos gab sie sich dem Ozean

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