Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
Er brachte das Schiff mechanisch aus dem Orbit, kaum bewußt, was er tat, und als er sich wieder von den Kontrollen abwandte, gratulierte ihm Siamang mit offensichtlicher Erleichterung. Dartagnan ging wortlos an ihm vorbei und ließ sich in den Aluminiumschacht fallen. Als er an Mythili Fukinukis Kabinentür vorüberkam, blieb er stehen und öffnete, von einem plötzlichen, masochistischen Impuls getrieben, die Tür und trat ein. Er schloß die Tür von innen wieder und schwebte zum Bett, wo er seine Jacke, sein Hemd und einen Schuh auszog. Er zog seinen schmerzenden Körper in den Schlafsack und murmelte leise: „Viel Glück, Rührmichnichtan, viel Glück …“ Und dann schlief er gnädigerweise endlich ein.
Als er wieder erwachte, brannte sein Gesicht unter seiner Berührung, und sein Knöchel im Stiefel war heiß und geschwollen. Er ging in die Gemeinschaftsräume, zwang sich zum Essen, suchte eine Flasche mit Antibiotika und schluckte hastig ein paar Tabletten. Dann ging er zurück zur Kabine, verschloß die Tür und schlief wieder.
Dieser Zyklus wiederholte sich viermal, wobei er Siamang sorgsam mied, bis das Fieber nachließ und er sich daran erinnerte, den Flug des Schiffes überprüfen zu müssen. Er führte einige unbedeutende Korrekturen aus, während er lange Sekunden am Schirm stehenblieb und die Dunkelheit nach etwas absuchte, was er niemals mehr finden würde. Danach versuchte er es mit dem Funkgerät, wurde aber von der Statik fast betäubt. Er erkannte, daß Siamang etwas mit der Langstreckenantenne angestellt haben mußte, während er geschlafen hatte. Er würde erst wieder Funkkontakt aufnehmen können, wenn sie sich innerhalb des Hoheitsgebietes des Demarchy befanden. Er überprüfte das Chronometer. Weniger als eine halbe Megasekunde Flugzeit war verstrichen. Auch ohne die zusätzliche Masse der Treibstofftanks vom Hinflug würden noch weitere drei Megasekunden bis zu ihrer Ankunft verstreichen.
„Wie kommen wir voran?“
Er wandte sich um und sah Siamang hinter sich. „Gut, soweit ich das erkennen kann.“
„Und wie steht es mit Ihrem Gewissen?“
Dartagnan lachte scharf und nervös. „Was für ein Gewissen?“
Siamang lächelte. Dartagnan riskierte einen Blick direkt in seine Augen. Sie waren klar, die Pupillen waren nicht geweitet. Er fragte sich, ob das gut oder schlecht war. „Ich fragte mich nur, ob Sie vielleicht unter Trauer und Reue leiden. Sie sehen nicht besonders gut aus.“ Leiser Spott, leise Mißbilligung … leiser Argwohn.
Chaim kratzte sich an einer unrasierten Wange. Sein Gesicht war ausdruckslos. „Ich leide nur unter den Folgen des Sturzes.“ Er betrachtete seine offene Jacke, die billigen Litzen seines zerknitterten Hemdes. Dann betrachtete er den makellosen Siamang, der wie immer alles unter Kontrolle hatte. Er hob die Hände. „Ich wollte mich gerade ein wenig zurechtmachen“, fügte er noch hinzu und entfernte sich.
Die Sekunden rieselten durch das Stundenglas der Zeit, das Schiff bewegte sich durch die Dunkelheit und kam langsam auf Touren. Die gelegentlichen Eskapaden, mit denen ihm Siamang auf der Hinfahrt auf die Nerven gegangen war, wurden nun berechnender, bis Dartagnan das Gefühl hatte, daß Siamang nur zum Zweck seiner persönlichen Folter am Leben war, ein privater Dämon, der seiner privaten Hölle entsprungen war. Er lebte von Sojamilch, denn die dauernde Anspannung verschlimmerte sein Magengeschwür, und schließlich kam die Schlaflosigkeit, als Siamang herausgefunden hatte, wie er am besten in den offenen Wunden seiner Schuld herumstochern konnte. Er spürte, wie der Panzer seiner zugelegten Gleichgültigkeit immer dünner wurde, und fragte sich, wieviel mehr er noch würde ertragen können. Und gleichzeitig fragte er sich, welcher Wahn Siamang dazu trieb, die Loyalität des einzigen „Zeugen“ seiner eigenen Verteidigung zu zerstören …
Bis Dartagnan erkannte, daß daran überhaupt nichts Wahnwitziges war, sondern daß es sich um einen berechnenden, kalt rationalen Test handelte. Trotz allem, was er darstellte, trotz allem, was geschehen war, vertraute ihm Siamang nicht – und wenn Siamang nicht von seiner völligen Hingabe und seiner völlig amoralischen Eigennützigkeit überzeugt werden konnte, dann konnte es gut passieren, daß es noch vor dem Ende dieser Odyssee aus Tod und Lüge zu einem weiteren „tragischen Unglücksfall“ kam. Sie waren sicher auf Heimatkurs – nun war er ebenfalls entbehrlich geworden. Drei Todesfälle
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