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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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mochten schwer zu erklären sein, aber Siamang verfügte über die Mittel, die öffentliche Meinung bei jeder Gerichtsverhandlung für sich zu gewinnen – solange es niemanden gab, der gegen ihn aussagen konnte.
    Diese plötzliche Erkenntnis der ihn bedrohenden Gefahr gab Dartagnan Halt auf dem Hochseil, das sich über den Abgrund seiner Verzweiflung spannte. Er würde alles erdulden, alles tun, was er tun mußte, er hatte nun nur noch zwei Ziele – sein eigenes Überleben und die Belohnung, auf die er sich tausendfach freute: kein Schiff, nicht seine Freiheit, sondern das Wissen, daß Siamang und Söhne bezahlen mußten. Sie würden bezahlen, um Mythili Fukinuki zum Demarchy zurückzubringen, sie würden für Sekka-Olefins Tod bezahlen, und sie konnten niemals genug dafür bezahlen, was sie Himmels Zukunft angetan hatten.
    Und daher erduldete er alles, ohne zu nörgeln, gehorsam und lächelnd – immerzu lächelnd. Er lebte für die Zukunft, die Vergangenheit war nur Dunkelheit hinter seinen Augen, er war ein Mann auf einem Drahtseil über der gähnenden Leere zwischen der Vergangenheit und ihrem Ziel. Und in der Zuflucht seiner Kabine fand er die private Welt von Mythili Fukinuki in einem mit Büchern und Papieren gefüllten Schränkchen. Zunächst blätterte er sie beschämt durch, fand die präzise Unpersönlichkeit von Astrogationstabellen … dann Bücher mit Poesie und Philosophie, und zwar nicht nur neuere, sondern Anglo-Übersetzungen einer Reihe verschiedensprachiger Autoren ihres Erbes von der Erde. Manche Passagen waren mit Ausrufungs- oder Fragezeichen markiert. Ihre eigenen Gedanken hielten Zwiesprache mit den Buchstaben auf schimmerndem Plastik oder füllten ausufernd vollgekritzelte Notizbücher.
    Er begann zu lesen, wie sie gelesen hatte, um die Zeit totzuschlagen. Er spürte in allem, was er las, ihre Gegenwart, in jeder kleinen Entdeckung. Jenseits von Kummer, Bitterkeit und Zorn spendete sie ihm Trost und brachte ihm Kraft – und endlich verstand er, daß er das Schürfen haßte, weil er die Einsamkeit haßte, daß das Zusammensein mit seinem Vater wegen seines heimlichen Grolls gegen ihn auch nicht besser als das Alleinsein gewesen war. Doch er sah sich an Bord seines eigenen Schiffes, sah Mythili Fukinuki als seine Partnerin – und er wußte, er würde niemanden und nichts sonst benötigen, um zufrieden zu sein … Ein vielgelesenes Buch mit Gedichten klappte in seinen Händen auseinander, und er sah unten ihr klare, seitlich geneigte Handschrift: Tot zu sein, mag einsam sein, doch einsamer als zu leben wird es kaum sein …
    Er fand einen Fettstift in dem Beutel mit seinen Habseligkeiten und schrieb langsam, als wäre keine Kraft mehr in seiner Hand, darunter: Ja, ja, ja … Das Bild ihrer zusammengekrümmten Gestalt, des wirbelnden Staubes von Planet Zwei, würgte seine Erinnerung. Er schlug das Buch zu. Nein, ich habe mich nicht getäuscht! Er verstaute das Buch sorgfältig in seinem Beutel, und danach hörte er mit dem Lesen auf.
    Doch dann erkannte er: Wenn er sich doch getäuscht haben sollte, wenn er ebenso schuldig war wie Siamang selbst … wenn Mythili Fukinuki seinetwegen gestorben war, dann stand, auch wenn er überlebte, um seine Aussage machen zu können, sein Wort gegen das Siamangs, und das war nicht genug. Siamang hatte Einfluß – und er hatte nichts. Ohne Mythili hatte er keine Beweise. Und wenn sie tot war, dann mußte er sicherstellen, daß Siamang damit nicht durchkam. Irgendwie mußte er erreichen, daß Siamang sich selbst belastete. Doch seine Kamera war kaputt, das Funkgerät ausgefallen, er hatte nicht einmal mehr eine Tonbandaufzeichnung – oder doch?
    Er stand leise auf und huschte aus dem Zimmer. Sie waren bereits im Hoheitsgebiet des Demarchy. Noch etwa einhundert Kilosekunden verblieben, bis sie auf Mekka landen würden. Dartagnan konnte endlich Funkkontakt herstellen, allerdings unter Aufsieht Siamangs, und er berief eine Medienkonferenz für ihre Rückkehr ein. Einhundert Kilosekunden – und er hatte immer noch keinen Beweis.
    „Los, Red, feiern wir unsere unversehrte Rückkehr in die Zivilisation.“ Siamang gestikulierte und lächelte offen, ohne Sarkasmus. „Großer Gott, was für eine Erleichterung, wieder in der realen Welt zu sein! Ich möchte diese ganze verdammte Angelegenheit so schnell wie möglich vergessen.“
    „Dasselbe gilt auch für mich, Boß. Je früher, desto besser.“ Dartagnan folgte ihm nach unten und machte gute Miene zum bösen

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