Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
Stadt, des ewigen Lebens. Er hielt das Leben in den hohlen Händen und trank … das Leben rann in Regenbögen des Lichtes zwischen den Prismen seiner Finger hindurch. Er war unsterblich, er lachte, er inhalierte das Aroma der Stadt, die Geräusche, Akkorde von Zimt und Nelken, Leitmotiv von Gardenien … von Korruption … ein zunehmender Geruch, der ihn betäubte, der seine Ohren und seine Seele wie Kristalle zerschmetterte, der die kristallene Stadt zerschmetterte … Ein ekelhafter Gestank von Verfall beleidigte seine Nase, seinen Mund, erfüllte seine Lungen wie schmieriger Staub, die fragilen Türme schrumpften, verblaßten, umschlossen ihn wie vergessene, vermodernde Körper … der Tod war ewig, nur der Tod, und ihr Gesicht, alle Gesichter, wandten sich ihm zu und verfielen, verfaulten wurmzerfressen, verrotteten … Ich weiß, Mythili … ich weiß … Er hatte keine Stimme … Ich weiß, du bist nicht! … ich kenne dich … Er hörte ihr Schluchzen wie das einer Blume. Kristalline Säuretröpfchen zerfraßen seine Eingeweide. Ich will nicht! Ich will nicht sterben … ich möchte leben … ich muß … möchte leben … Er war von den Armen des Todes umfangen, von Würmern zerfressen, er sah sein Fleisch verfaulen, von den Knochen fallen … und das war das Ende … das Ende der Welt.
Dartagnan erwachte und regte sich benommen auf dem Fußboden des Bades seiner Privatkabine. Er versuchte sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war, warum er glühende Kohlen gegessen hatte … warum er weinte. Er blieb still liegen, zu erschöpft, um sich zu bewegen, und lauschte dem Winseln eines Ventilators, – des Abfallabsaugers. Dann erinnerte er sich daran, daß ihm sterbenselend gewesen war. Er berührte sein Gesicht, das von einem Film aus Schweiß und Tränen und Erbrochenem überzogen war.
Mein Gott, er hatte wirklich eine ziemliche Schweinerei angerichtet. Er richtete sich auf und schwebte zum Waschbecken, um den Ventilator abzustellen. Er sah sich selbst im Spiegel und schloß augenblicklich die Augen, vor Verlegenheit laut fluchend …
Siamang. Er griff nach unten und zog seinen Stiefel aus, fluchte erneut, als er seinen noch immer geschwollenen Knöchel streifte. Doch dann lachte er triumphierend, als seine Hand sich um den zerknitterten, schwebenden Zettel schloß, die Kreditbestätigung. Immer noch da … Er versuchte nochmals vergeblich, sich an das Vorgefallene zu erinnern. Er wußte, daß Siamang ihn unter Drogen gesetzt hatte, daß er alles gesagt hatte – und unter den gegebenen Umständen konnte alles viel zuviel sein. Aber er hatte den Schuldschein, und er war immer noch am Leben. Das Flackern eines Alptraums, eine Diskontinuität, schüttelte ihn. Er strich sich furchtsam mit den Händen über den Körper. Er war noch immer am Leben. Das Metallband lag noch immer um seinen Nacken, er hatte alles, was er brauchte. Vielleicht würde sich einmal, nur ein einziges Mal, doch noch alles zum Guten wenden …
Er zog sich aus, ging mit seiner schmutzigen Kleidung zur Dusche, dichtete sie ab und stellte das Wasser ab. Er ließ es, ungeachtet der Verschwendung, drei volle Duschperioden lang laufen, eine ganze Kilosekunde, bis er sich endlich sauber fühlte. Das Leben und – beinahe – Selbstachtung regten sich langsam wieder in seinem Inneren, während die Heizlampe die Nässe von seinem Körper trocknete und die Scham und letzte Reste von Steifheit aus seinem Verstand und seinem Körper kochte. Er rasierte sich, machte das Bestmögliche aus seinen zerknitterten Kleidern und zog sich das frische Hemd an, das er für ihre Rückkehr nach Mekka aufgehoben hatte. Das Äußere war alles, und er war gezwungen, ein passables Äußeres zu präsentieren, wenn er sein Spiegelbild in den Kameras der Medienleute sah … Er untersuchte seinen Knöchel. Die braune Haut war immer noch von häßlichen Blutergüssen verunziert, doch sie heilte allmählich. Eine Frage der Zeit. Er zwang ihn wieder in den Stiefel und polierte beide Schuhe mit seinem abgelegten Hemd. Er dachte an seine anderen Wunden und fragte sich, wieviel Zeit verstreichen mußte, bis auch sie heilen würden.
„Dartagnan …?“
Er hörte Siamang erst leise, dann lauter an der Tür rütteln. Er ging hin und öffnete sie mit starren Gesichtszügen. Siamang starrte ihn an. Chaim fragte sich, ob er wegen seines passablen Äußeren oder seines hageres Gesichts so erstaunt war. „Was wollen Sie?“
Siamang hielt ihm fast zögernd eine Trinkkugel
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