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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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CRYSTAL SHIP
     
    Das Kristallschiff schwebte, in einer ewigen Kreisbahn fixiert, über der wolkenverhangenen Welt tief unter ihm. Im Inneren seiner schweigenden Hallen suchten die Träumer Vergessen in der Schönheit. Nur noch etwa fünfzig von ihnen waren übriggeblieben, doch war niemand darunter, der sich zu erinnern vermochte, warum ihre Vorfahren hierhergekommen waren, keiner, der auch nur versucht hätte, darüber nachzudenken. Doch noch immer kamen sie, nach fünfhundert Jahren, als wäre es ein Ritual.
    Vom weitgespannten Torus der zentralen Halle blickten die Träumer nach draußen über das grandiose Panorama ihrer Welt, oder aber sie lagen in tiefer Trance in den halbflüssigen Polstern der Sessel und Diwans im Gemeinschaftsraum. Tiefroter Chitta-Sirup war an den Rändern kristallener Karaffen erstarrt wie geronnenes Blut.
    Chitta rötete Tarawassies Lippen, Sterne tanzten auf ihren Fingerkuppen, als sie die irrealen Barrieren des Seins und der Wahrnehmung beiseite schob, um eins zu werden mit dem grenzenlosen Universum, formlos, zeitlos, gedankenlos … Tarawassie träumte, wie sie schon immer geträumt hatte und wie sie noch immer träumen würde, hätte es nicht den Zwischenfall mit Andar gegeben:
     
    Die Farben des Sonnenuntergangs verblaßten am Abendhimmel, Blütenblätter zerfielen in pastellfarbene Schatten, ihr angenehmes Aroma verwehte, der Erinnerung anheimgefallen. Weiche Barrieren umschlossen sie, Fesseln des Fleisches, der stützende Halt des Knochengerüstes nahm um sie herum Formen an, als sie, sorgenvoll, in die Wirklichkeit zurückstürzte.
    „Es ist wahr! Es ist wahr …!“ Die plötzlichen Laute drangen auf sie ein, explodierten in ihrem Gehirn in düsterer Glut.
    Sie bewegte unsicher ihre Hände, unfähig zu entscheiden, was sie damit bedecken sollte, Augen oder Ohren. Ein bleiches Gesicht, scharf abgegrenzte Konturen im sie umgebenden Halbdunkel, schwebte auf sie zu, sie wurde emporgerissen, geschüttelt, gepeinigt in einem Korridor widerhallenden Lärms. „Schaut euch an, ihr … ihr … ihr – ihr versteht nicht … Tiere; verderbt widerlich …!“ Ein schwacher Aufschrei, während sie gänzlich erwachte, um gegen die Schmerzen, die sie durchzuckten, anzukämpfen, doch sie wurde zurückgeworfen in die wabernde Sanftheit der Couch.
    Das Gesicht bewegte sich fort von ihr, wurde zur Realität, nahm langsam Gestalt an, sie erkannte Andar, seine helle Robe wogte wie der Wind über eine grüne Wiese, während er wieder und wieder rief: „Ich kenne die Wahrheit! Aber ihr seid unfähig, sie zu sehen!“ Seine Finger wirbelten in einer seltsamen Gestik, während er durch die Räume taumelte. Instinktiv erhob sie sich, folgte ihm durch die transparenten Hallen und sah, wie er, über andere reglose Gestalten fallend, sich einen Weg zum Herzen aller Schönheit bahnte – zur Sternenquelle. „Ich liebe dich, ich hasse dich …!“ Es war unmöglich festzustellen, ob er lachte oder schluchzte. „Euer Halbleben, euer lebender Tod! Ich bin allein – der einzige Lebende – und ich ertrage es nicht länger, mit euch zusammenzuleben.“ Er erreichte den Rand der Quelle, kniete dort nieder und beugte sich über die kühlen, pulsierenden Tiefen. „Ich kenne dein Geheimnis“ – zu seinem eigenen Gesicht, das sich unter ihm spiegelte, gewandt –, „und ich bin bereit, bereit, den Drachen zu besiegen und in den dunklen Schlund zu tauchen. Nimm mich! Es gibt einen Himmel, und das ist der Tod …“
    Weinend ließ er sich in die Tiefen der Quelle hinabgleiten, seinen eigenen, undeutlichen Schatten umfangend. Phosphoreszierende Wellen, in einem dunklen Aquamarin vibrierend, ließen die Oberfläche des Nicht-Wassers erzittern, dann lag der Körper still. Tarawassie stand unbeweglich staunend, unfähig, die Geschehnisse mit der Wirklichkeit ihres Denkens in Einklang zu bringen.
    Und da lag er, so ruhig, so vollkommen unbeweglich und still. Die anderen, die die Szene mitangesehen hatten und die in der Lage waren, sie zu verstehen, kamen und versammelten sich um Tarawassie, sie bewegten sich langsam und ruhig, in stiller Verwunderung durch die Räume, um schließlich am Rande der Quelle zum Stehen zu kommen.
    Andars Körper lag zu ihren Füßen, unbeweglich, haltlos, auf sonderbare Weise schwebend. Blaugrüne Schatten wogen umspülten ihn sanft, sein verziertes Gewand bewegend, spielten mit seinen blonden Haaren und kräuselten sich um seine erstarrten Finger.
    Tarawassie wußte, daß ihre eigene

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