Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
Hand nichts spüren würde außer einer gewissen Kälte, hielte sie sie in die unergründlichen blaugrünen Tiefen. Das Geheimnis der Quelle hatte sie niemals beunruhigt, selten hatte sie je einen Gedanken daran verschwendet. Die Sterne schienen sehr, sehr groß und nahe, als schliefen sie in den samtenen Tiefen.
„Andar … Andar?“ Jemand vor ihr kam wieder zu Bewußtsein, ergriff eine bewegungslose Hand, berührte sie scheu. Keine Reaktion. Sie sah, wie Sabowyn Andars Körper an den Rand zog, um ihn, der noch immer schwebte, umzudrehen.
„Was ist geschehen?“
„Was hat er getan?“
Flüsternde Stimmen murmelten Fragen. Sabowyn schüttelte in stummer Ratlosigkeit den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich glaube … ich glaube, er ist … gestorben.“ Seine Hände berührten Andars Lippen. Andars Mund bewegte sich nicht, für immer erstarrt in einem Lächeln höchster Glückseligkeit. Seine Augen waren geöffnet; ohne zu blinzeln blickte er hinauf durch den kristallenen Dom, hinauf zu den Sternen und weit darüber hinaus, verloren in einem unbegreiflichen Wunder.
Tarawassie wandte sich ab, unfähig, den Strom unerwünschter Gefühle, die das Gesicht in ihr erzeugte, zu ertragen. Sie sah hinab, um ihr eigenes Gesicht zu betrachten, das sich undeutlich in der trügerischen Oberfläche der Quelle widerspiegelte: Blaugrüne Augen, kaum wahrzunehmen in der Spiegelung des Nicht-Wassers, schwarze Haare, die mit ihrem unwirklichen Spiegelbild verschmolzen.
„Er ist tot“, sagte Mirro, ihre Hand auf Andars Brust legend.
„Aber wie kann er denn tot sein? Wie konnte er sterben?“
„Er wollte sterben. Das hat er immer wieder gesagt.“
„Er war nicht bei Sinnen.“
„Aber wie konnte er …?“
Die Stimmen woben ein Netz purer Ungläubigkeit um sie herum. Tarawassie erhob sich, sich von ihrem Spiegelbild abwendend. „Die Quelle … die Sternenquelle. Sie erfüllte ihm seinen Wunsch.“
„Ist es eine Wunschquelle?“ Jemand lachte andeutungsweise hinter ihrem Rücken. „Ist es das, was es ist?“
„Armer Andar. Er war verrückt. Er war immerzu irr, er war niemals glücklich.“
„Nun hat er sein Glück gefunden.“ Sabowyn erhob sich, auf den ausgestreckten Körper zeigend. „Seht! Betrachtet sein Gesicht. Es sieht so friedlich aus.“ Mit einem Seufzen strich er sich die Haare aus dem Gesicht und setzte sich wieder.
„Aber uns wird sie niemals etwas antun, die Quelle, meine ich.“
„Ich weiß nicht.“ Sabowyn schüttelte den Kopf. „Es spielt keine Rolle. Armer Andar, nun ist er glücklich. Es spielt jetzt keine Rolle mehr.“
„Aber was sollen wir mit seinem Körper tun?“
„Wir bringen ihn hinunter in die Stadt. Irgend jemand dort wird sich seiner annehmen.“
„Armer Andar.“
„Armer Andar … armer Andar …“ Ihre Stimmen erklangen wie ein Choral. „Aber jetzt ist er glücklich.“
Tarawassie, die noch immer am Rand der Quelle kauerte, schloß ihre Augen, und ihr Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen, als sie ihn emporhoben und wegtrugen. Ist er das wirklich?
„Tarawassie.“ Mirros Hände legten sich sanft auf ihre Schultern. „Ich werde wieder zu meinen Träumen zurückkehren. Willst du am Webstuhl weben?“
Tarawassie erhob sich, wobei sie einer schmerzenden Steifheit in ihren Gelenken gewahr wurde. Sie schüttelte den Kopf bewußt dieses Mal. „Nein. Ich kann nicht. Ich werde in die Stadt hinuntergehen.“
„Warum?“
„Meine Mutter ist krank.“ Sie wiederholte es zum tausendsten Mal. Niemand schien sich jemals daran zu erinnern, aber sie war deswegen nicht traurig oder erzürnt. „Ich muß sie besuchen gehen.“
„Oh.“ Mirro wandte sich ab; abwesend betrat sie die spiralförmige Rampe. „Ich werde schon jemand anderen finden.“
Tarawassie folgte den Männern, die Andars Körper trugen, hinab zum tiefsten Punkt des Kristallschiffes. Das weiche Leder ihrer ausgetretenen Schuhe erzeugte nicht das leiseste Geräusch auf dem transparenten Boden. Endlich erreichte sie die kleine Gruppe; wortlos warteten sie gemeinsam auf das Erscheinen des Fährbootes. Lange Zeit stand sie bei ihnen und schaute durch die transparenten Wände nach draußen, ruhig, unbeeindruckt von der erschreckenden Leere unter ihren Füßen. Die Welt war ein fleckiges Vogelei, blau mit zarten Rosttönen, vermischt mit dem Weiß der Wolken, die Farben bereits halb verborgen im Dunkel der Nacht. Sie konnte die Silhouette des Planeten mit ihren Armen umfangen und stand einen kurzen
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