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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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keine Antwort gab. „Aber weshalb?“ Doch sie wußte, sie würde niemals eine Antwort erhalten; vielleicht bestand eben diese Antwort aber auch nur aus dem Ende aller Fragen.
    Aber die Sternenquelle … Sie erinnerte sich ihrer eigenen Worte: „Sie hat ihm seinen Wunsch erfüllt.“ Niemals zuvor hatte die Quelle einem von ihnen etwas zuleide getan, in all den Jahren nicht, soweit ihre Erinnerung zurückreichte. Und nun war Andar an ihren Rand getreten, müde seines vergeblichen Lebens, ausgehöhlt von seiner Pein. Er hatte die Quelle gebeten, ihn zu akzeptieren, ihm den Tod zu geben – und sie hatte ihm geantwortet, dessen war sie sich sicher. Sehr sicher. Er war ohne Qualen gestorben, würde niemals mehr leiden müssen, nie mehr …
    Langsam tauchten sie in die obersten Wolkenschichten ein, die sich entfalteten, um erneut zu verschwinden und den Blick auf die Häuser der Stadt freizugeben. Die Vibrationen nahmen zu, während die Ansammlung der Wohnhäuser unter ihnen immer größer wurde, und endlich setzten sie im Halbdunkel der Landestation auf. Das Außenschott der Fähre öffnete sich. Tarawassie löste die Gurte und glitt nach draußen ins widerhallende Zwielicht der Kuppel. Sie war verlassen, wie immer, es war niemand da, dem sie von Andars sterblichen Überresten hätte berichten können. Andere Landefahrzeuge standen säuberlich aufgereiht im Innern der Halle, die kristallenen Fenster mit dichten Staubschichten bedeckt. Sie nahm keine Notiz vom verwahrlosten Zustand der vielen Fahrzeuge; nie hatte sie gesehen, daß man auch nur eines davon benutzt hätte.
    Sanfte herbstliche Böen spielten mit den farbenprächtigen Verzierungen ihres Gewandes, während Tarawassie durch die verlassenen Straßen zum Haus ihrer Mutter schritt. Sie ging langsam, beschleunigte ihren Schritt unvermittelt, um dann wieder in ihre langsame Gangart zu verfallen, ungeachtet des Windes, der ihren zitternden Körper attackierte. Sie würde ihrer Mutter von Andar erzählen … Nein, nein! Wie konnte sie? Sie beobachtete imaginäre Wellen, die über die dunklen, spiegelnden Oberflächen der Hauswände dahinglitten und im unebenen Pflaster der Allee versiegten, das von herzförmigen Blättern, mit deren Hilflosigkeit der Wind sein Spiel trieb, verborgen war. Sie erreichte die Biegung der Straße, die zum Haus ihrer Mutter führte, gesäumt von kleinen Häufchen zerbrochenen Gesteins. Der Wind blies ihr in den Rücken, bis sie schließlich in die dunkle Öffnung des Gebäudes hineinstolperte und begann, die Stufen der Treppe zu ersteigen. Nichts hatte ihre Mutter dazu bewegen können, in ein tieferes Stockwerk oder in ein Gebäude umzuziehen, das noch von einigen anderen bewohnt wurde. Ihre Krankheit und das hohe Alter hatten sie starrsinnig gemacht; sie war gezwungen, eine lange Familientradition gegen die zersetzende Wirkung einer Ungewissen Zukunft zu verteidigen. Nun war sie nicht mehr in der Lage, ihr Bett zu verlassen. Der alte, zittrige Zepher sah nach ihr, wenn Tarawassie nicht da war. Der war zu alt, um die Reise ins Kristallschiff noch mitzumachen; neben ihrer Mutter war er der einzige Bewohner der sechs Stockwerke des Hauses.
    „Tarawassie – bist du es?“ Die Stimme ihrer Mutter erreichte sie nur schwach. Die alte Frau konnte nicht mehr viel tun – außer warten und lauschen.
    „Ja, Mutter.“ Tarawassie folgte den dunklen Abdrücken, die ihre Füße im Staub hinterlassen hatten, zur Wohnungstür und trat ein.
    Die Luft war hier stets schlecht und abgestanden, sogar für ihren eigenen, nur schwach ausgeprägten Geruchssinn. Ihre Mutter hatte sich schon oft darüber beschwert, doch sie konnte die Fenster nicht öffnen. „Mutter, wie geht es dir?“ Sie atmete tief ein und hielt dann den Atem an, als wollte sie verhindern, daß die drückende Atmosphäre ihren Brustkasten zerquetschte.
    „Ich bin glücklich. Glücklich, meine Tochter zu sehen.“ Kein Vorwurf lag in der Stimme der alten Frau, aber eine stille Traurigkeit verdunkelte ihre müden Augen, während sie Tarawassie betrachtete; sie verstand den stillen Schmerz, der ihre Tochter davon abhielt, sie häufiger zu besuchen.
    Tarawassie ging über die kahle Oberfläche des Bodens zum Bett ihrer Mutter, kniete nieder und preßte die heiße Hand gegen ihre Lippen, fühlte die zerfurchte Rauheit der Haut, fühlte das Lächeln ihrer Mutter. „Oh, Mutter …“ Tränen stiegen in Tarawassies Augen, doch sie verbarg sie vor der alten Frau, indem sie sich abwandte und ihr

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